Tag 4: Gespräche auf der Straße
15. August 2012 - In der Nacht vom 14. auf den 15.8.: Mit laufendem Motor wartet der alte Ambulanzwagen. Aber es steigen keine Ärzte ein und in den Fächern liegen auch keine Medikamente, sondern Kondome und Spritzen. Es ist Dans zweite Schicht heute. Der 29jährige trägt eine aufgekrempelte Jeans und ein graues T-Shirt. Entschlossen erklärt er, wie sie jeden Abend mit der Ambulanz in die Hölle dieses harten Landes fahren.
Der erste Stopp ist am Nordbahnhof. Krachend schlägt die Schiebetür auf. Es dauert nur wenige Sekunden, bis eine kleine mädchenhafte Frau in einem rosa Kleid angelaufen kommt. Mihail, ein Kollege von Dan, reicht ihr einen Packen Kondome, den sie rasch durchzählt. „Die braucht sie nicht alle für ihre Kunden, aber so werden sie wenigstens auf dem Strich verbreitet“, erklärt Dan.
Zum ersten Mal begreife ich, dass Prostitution sehr viel mit Kindern zu tun hat. Viele der Mädchen, die wir in den nächsten Stunden interviewen, sind 16-17 Jahre alt und müssen schon seit Jahren anschaffen gehen. In einer dunklen Straße stehen Kinder und schauen dabei zu, wie ihre Mütter und Geschwister versuchen, Autos anzuhalten.
Kristina ist 29 und hat vier Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren. Die zierliche Frau in dem dünnen weißen Kleid wohnt ganz in der Nähe ihrer Arbeitsstätte. Gerade holt ihr Mann den jüngsten Sohn ab. Ob sie keine Angst hat? Kristina lacht verlegen auf. „Wir versuchen uns zu helfen. Aber wir kennen alle Geschichten, wo Mädchen in Hotels umgebracht wurden.“
Das Geschäft ist extrem hart. Andrea ist 17. Seit gut zwei Jahren arbeitet sie auf dem Straßenstrich. Das zierliche Mädchen trägt einen braunen Minirock und ein dünnes T-Shirt. „Ich habe nicht so viel Geld, mich hübsch zu machen. Deshalb musste ich meine Preise senken. Jetzt sind die anderen sauer auf mich und helfen mir nicht mehr.“ Ob sie sich schützt? Mit routiniertem Griff zeigt sie uns ein paar Kondome und nickt dabei. Ihre Augen wirken müde. Zum Abschied umarmt sie uns.
Fast alle Mädchen und Frauen, mit denen wir in dieser Nacht sprechen, arbeiten immer wieder im Ausland: in Spanien, Italien, Frankreich und auch in Deutschland. Zurück in der Ambulanz erklärt Dan wie das funktioniert. Die Frauen kennen Ansprechpartner in diesen Ländern, die ein Haus haben, wo sie eine Zeitlang arbeiten können. Wer wie viel daran verdient, bleibt im Dunklen.
Am Morgen – Zwischen Wut und Realismus
Iana Matei – noch eine Kämpferin. Sie hat ein Haus für ausgebeutete Mädchen und Frauen aufgebaut. Die kräftige Frau in dem rosa Kleid ist von dem Leid der Opfer des Menschenhandels geprägt, mit dem sie tagtäglich konfrontiert ist. „Die Preise für bezahlten Sex sinken in Osteuropa, weil es so viele Mädchen und Jungen gibt, die dafür zur Verfügung stehen“, erklärt Matei. „Menschenhändler sind sehr mobil und verändern ständig ihr Geschäft. Die Gesetze und Behörden kommen nicht mit.“
Wie geraten die Mädchen da rein? Es beginnt alles ganz harmlos mit der Sehnsucht nach Liebe. „Viele Mädchen werden zuerst durch ihren Freund ausgenutzt. Weil sie in ihren Familien keine Liebe erfahren, machen sie, was ihre „Loverboys“ wollen. Die sind drei Monate nett und sagen dann, lass uns nach Spanien fahren. Dort landen sie in einer Wohnung mit drei anderen und bekommen die Rechnung präsentiert. Wenn sie nicht gleich kapieren, werden sie vor den anderen vergewaltigt.“ berichtet Matei.
Sie erzählt, wie ein Mädchen einfach auf dem Strich abgestellt wurde. Als ihr „Freund“ abends kam und sie nichts verdient hatte, hat sie sich dafür geschämt und schuldig gefühlt. Prostitution ist in Rumänien offiziell verboten – aber bestraft werden die Opfer. Vor kurzem wurde ein Mädchen auf dem Strich in Constanza HIV-positiv getestet. Die Behörden hatten nichts Besseres zu tun, als ihr Gesicht im Fernsehen zu zeigen, um ihre Kunden zu warnen. „Die Leute sagen einfach: Das ist ihr eigener Fehler.“
Das größte Problem sieht Matei in fehlendem Wissen und den desolaten Verhältnissen in so vielen Familien. „Unsere Gesellschaft hat Werte und Regeln verloren. Das ist der Grund dafür, warum es so leicht ist, Jungen und Mädchen dazu zu bringen mitzugehen. „Die Mädchen haben keine Ahnung. 80 Prozent sagen, das passiert mir nie. Die Kinder werden nicht zum Denken erzogen. Menschenrechte, Zivilgesellschaft – all das spielt keine Rolle.“
Was kann man tun? UNICEF versucht die Strukturen und Einrichtungen für einen besseren Kinderschutz mit den Behörden zu entwickeln. Das ist eine langfristige, zähe Arbeit – oft frustrierend, wenn zum Beispiel ständig Ansprechpartner wechseln. Iana Matei geht die Hilfe nicht schnell genug. Sie sieht darin nur Training in „Political Correctness“. Voica Pop hat Verständnis für die Ungeduld der Aktivistin, die auch schon Unterstützung von UNICEF erhalten hat – auch wenn solche pauschale Kritik wehtut. Sie erinnert an die Fortschritte für Kinder, die es in den vergangenen Jahren gab. Und daran, dass es keine Alternative zu der Arbeit von UNICEF gibt.
Reisetagebuch Rudi Tarneden
» Tag 1: Bukarest - Hauptstadt am Rande Europas
» Tag 2: Parallelwelten
» Tag 3: Notaufnahmeeinrichtung Buzau
» Tag 4: Gespräche auf der Straße