Tag 3: Notaufnahmeeinrichtung Buzau

Morgens - Kinder, Opfer der Krise


14. August 2012 - Kinderheime sind immer traurige Orte, auch wenn alle es gut meinen. Jedes Kind bringt seine eigene dramatische Geschichte mit.

Zuflucht in der Notaufnahme in Buzau. | © UNICEF/Tarneden

Zuflucht in der Notaufnahme in Buzau.

© UNICEF/DT2002-43289/Tarneden

Der kleine Florin ist zwei Jahre alt. Voller Sehnsucht nach Zuwendung schmiegt er sich an die Besucher. Seine Mutter hat ihn nach der Geburt verlassen. In seinem ersten Lebensjahr lag er meist ohne Ansprache im Bett. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mit rhythmischen Bewegungen selbst zu stimulieren. In der Notaufnahmeeinrichtung in Buzau geht es ihm langsam besser. Aber wie wird seine Zukunft aussehen?

Gina, die freundliche, kompetente Leiterin, erklärt stolz, wie sie es geschafft haben, irgendwann ein Nottelefon einzurichten, damit Kinder wie Florin schneller gefunden werden. Doch was dann? In der Provinz leben rund 100.000 Kinder – und es gibt nur eine solche Einrichtung, in der Kinder für eine gewisse Zeit eine Zuflucht finden.
Voica Pop von UNICEF ergänzt: „Wir kämpfen darum, dass Familien rechtzeitig Unterstützung bekommen und Kinder nicht einfach herumgereicht oder verlassen werden.“ Aber das ist nicht einfach. Die 13jährige Andrea hat niemanden, zu dem sie gehen kann. „Ich möchte nach Hause. Wer immer mich auch zurücknimmt.“

Voica Pop, Kinderrechtsexpertin von UNICEF Rumänien, spielt mit Kindern in Calvin.

Voica Pop, Kinderrechtsexpertin von UNICEF Rumänien, spielt mit Kindern in Calvin.

© UNICEF/DT2012-59914/Rudi Tarneden

Freundlich in einer Mischung aus Stolz und Scham streckt die 17jährige Nicoleta ihren dicken Bauch entgegen. In wenigen Tagen wird ihr Baby geboren. Ihre Mutter arbeitet irgendwo im Ausland, ihr Vater ist verschwunden. „Jetzt bekomme ich das Kind. Dann warte ich, bis ich 18 bin und suche eine Arbeit. Wenn das nicht klappt, gebe ich das Kind zur Adoption", erklärt Nicoleta ihre Pläne.

Kinder und Jugendliche, die sich so nach Liebe und Zuwendung sehnen, können leicht zum Opfer werden. „Kinder werden zum Betteln und in die Prostitution geschickt. Die Behörden sind machtlos, denn das ist schwer nachzuweisen“, sagt Sozialarbeiter Ciprian.

Nachmittags – Die Macht der Drogen

Der Mann ist sichtlich wütend. Dr. Adrian Abaguin ist medizinischer Leiter der Drogenambulanz in Bukarest. Über 2000 meist junge Abhängige bekommen hier regelmäßig Methadon. „Niemand sieht unsere Arbeit, niemand in der Regierung unterstützt uns hier“, sagt Dr. Abaguin. Dabei hat sich die Zahl der Abhängigen in Rumänien seit 2010 auf über 250.000 Menschen verzehnfacht. „Die Drogennutzer sind immer jünger geworden. Viele rauchen mit acht Jahren und trinken Alkohol. Ich kenne Zehnjährige, die sich Stoff spritzen.“
Auslöser für diese Explosion sind die neuen synthetischen Drogen. Die billigen Glücksbringer aus dem Chemielabor verbreiten sich rasend schnell. Sie werden in legalen „Dream-Shops“ oder über das Internet verkauft. Die Zusammensetzung wird ständig verändert, so dass die Behörden nicht nachweisen können, ob sie illegale Substanzen enthalten. „Eine Analyse kostet 200 Euro. Dabei weiß die Polizei nicht einmal, wie sie das Benzin bezahlen soll, um dort hinzufahren. Sie sind der 'Speedball of the poor'.“

Aura hängt seit 14 Jahren an der Nadel. Sie will aufhören, wegen ihrem Sohn. Der ist zehn und kennt seine Mutter nur auf Droge. Als er sie anflehte, damit aufzuhören, ist sie in die Ambulanz gekommen. „Ich will arbeiten, zum Beispiel als Putzfrau“, sagt Aura und zeigt uns ein altes Foto von sich. „Ich habe keine Angst vor schwerer Arbeit.“ Wenig ähnelt das Bild der hübschen Frau mit dem zusammengebundenen Haar der erschöpften, leicht aufgedunsenen Gestalt heute. Aber die Augen zeigen einen Willen. Aura will es schaffen. Für ihr Kind.

Reisetagebuch Rudi Tarneden

» Tag 1: Bukarest - Hauptstadt am Rande Europas
» Tag 2: Parallelwelten
» Tag 3: Notaufnahmeeinrichtung Buzau
» Tag 4: Gespräche auf der Straße

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