Tag 2: Parallelwelten
13. August 2012 - Warum arbeiten wir in einem Land, das zur Europäischen Union gehört? Voica Pop, Kinderrechtsexpertin runzelt die Stirn. „Rumänien ist ein Industrieland und gleichzeitig ein Entwicklungsland. Sehr viele Kinder haben kein richtiges Zuhause und funktionierenden Kinderschutz gibt es kaum. Fehlende Bildung und kaputte Familien sind das größte Problem.“
Was das bedeutet, erfahre ich in der Provinz Buzau an den Ausläufern der Karpaten. Die Brücke nach Rusavatu hängt an verrosteten Seilen. Auf schwankenden Holzbrettern überqueren wir den Fluss. Der steinige Feldweg schlängelt sich über mehrere Hügel bis er sich zu einem Tal absenkt. In der Nähe einer winzigen verrosteten Bahnstation treffe ich Neluta Tapu und ihre sechs Kinder. Armut und Erschöpfung sind ihr anzusehen. Die freundliche, zurückhaltende Frau in dem schmutzigen, gelben Kleid ist erst 29 Jahre alt. Das Jüngste stillt sie mit müdem Blick, während sie vom Leben in dieser Einsamkeit erzählt.
Ihr Mann schlägt sich als Tagelöhner durch. Nachts schläft er mit den drei Jungs in dem winzigen Raum mit blau angestrichenen Lehmwänden auf einer schmutzigen Pritsche. Neluta legt sich mit den Mädchen in die rosa angemalte Küche, wo an der winzigen Feuerstelle ein paar Äpfel lagern. „Mit uns spricht hier kaum jemand“, sagt sie. Ihr elfjähriger Sohn Ionut ist zwar in der Schule angemeldet. Aber der Weg ist weit. Er muss alleine über eine Stunde dorthin laufen; oft schafft er es nicht. „Ionut geht gerne in die Schule, aber er vergisst immer alles.“
Mit einer Mischung aus Skepsis, Neugier und Ergebenheit hören die Kinder zu. Wie ihre Mutter scheinen sie sich in ein scheinbar auswegloses Schicksal zu fügen. „Wir gehen ins Bett, wenn der Zug um acht Uhr vorbei ist“, sagt Neluta. Eine Uhr haben sie nicht. Bitterste Armut mitten in Europa.
Der kräftige Bürgermeister mit der breiten Zahnlücke, der uns hierher gebracht hat, wartet ungeduldig und auch ein wenig verständnislos. Sein Blick drückt ein wenig Verwunderung aus, warum sich jemand mit diesen Kindern abgibt. „Viele Menschen bei uns denken, die Familien am Rande der Gesellschaft sind selbst schuld“, sagt Voica Pop von UNICEF. „Viele Bürgermeister wissen nicht einmal, wie viele Kinder es in ihren Gemeinden gibt.“ Jedes zehnte Kind in dieser armen Gegend gilt als gefährdet – durch die fatale Mischung aus Armut, fehlender Bildung, Gleichgültigkeit und Gewalt.
UNICEF organisiert in der Provinz die Zusammenarbeit zwischen Sozialarbeitern, Gesundheits- und Kinderschutzeinrichtungen und bildet Helfer aus. Leute wie Ciprian Parvu, die jetzt im Auftrag von UNICEF in Buzau die Hilfe für die Kinder am Rande der Gesellschaft koordiniert. „Die Menschen wissen nicht, wie sie selbst ihre Situation verbessern können“, erklärt er. „Die Großväter konnten lesen und schreiben. Sie haben die Häuser gebaut. Ihre Kinder schaffen es nicht einmal mehr, sie zu erhalten.“
Ciprian ist froh um die Unterstützung von UNICEF. „Die Behörden sind völlig überfordert durch die große Zahl kaputter Familien. Sie wissen auch nicht, was sie machen sollen, wenn der Verdacht besteht, dass Kinder Gewalt erleiden, missbraucht oder ausgebeutet werden. Durch die Hilfe von UNICEF arbeiten wir heute viel besser zusammen. UNICEF sieht unsere praktischen Probleme und stellt sich darauf ein. Wir haben auch gelernt, wie wichtig es ist, dass wir uns klare Ziele setzen und dann überprüfen, ob wir sie erreicht haben.“
Reisetagebuch Rudi Tarneden
» Tag 1: Bukarest - Hauptstadt am Rande Europas
» Tag 2: Parallelwelten
» Tag 3: Notaufnahmeeinrichtung Buzau
» Tag 4: Gespräche auf der Straße