Eine Politik für Kinder
Jedes Kind hat ein Recht auf Förderung, Schutz und bestmögliche Chancen, in Deutschland ebenso wie in den Entwicklungsländern und in den Krisenregionen der Welt. Dazu hat sich Deutschland mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention bekannt. Mit der Verabschiedung der neuen Nachhaltigkeitsziele, der Agenda 2030, im Jahre 2015 hat sich Deutschland nicht nur dazu verpflichtet, den globalen Herausforderungen nachhaltig zu begegnen, sondern auch seine internationale Verantwortung zu stärkerem Engagement für Kinderrechte weltweit bekräftigt.
Die Zukunftsfähigkeit und das Wohl unserer Gesellschaft im Wandel hängen zugleich unmittelbar damit zusammen, ob und wie die Kinder, die in Deutschland aufwachsen, von Politik und Gesellschaft gefördert und in ihrer Entwicklung begleitet werden. Die kommende Legislaturperiode 2017 bis 2021 wird entscheidende Weichenstellungen für Deutschland bringen – und Kinder sollten dabei im Mittelpunkt stehen.
Es ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft Strukturen bereitzuhalten, um Kindern ein freies, chancenreiches und selbstbestimmtes Erwachsenwerden zu ermöglichen. Aber insbesondere die Politik ist in der Verantwortung, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, die Kinder in den Fokus nehmen. Von der Kommune bis zum Bund und in jedem Ressort: Die Verwirklichung der Kinderrechte benötigt starke Netzwerke und ist eine Querschnittsaufgabe in allen Bereichen und auf allen Ebenen. Es gibt keine Politik, die Kinder nicht betrifft.
Deutschland hat in der zu Ende gehenden Legislaturperiode einen bedeutsamen Beitrag dazu geleistet, Armut und Krisen weltweit zu bekämpfen. Die 2013 bis 2017 amtierende Bundesregierung hat sich auch im Inland familienpolitisch stärker an den Kinderrechten orientiert und beispielsweise eine Kinderrechte-Monitoringstelle eingerichtet.
Dennoch bestehen weiter ungelöste Herausforderungen und Aufgaben, die nach Auffassung von UNICEF Deutschland in der kommenden Legislaturperiode in den Mittelpunkt rücken sollten. UNICEF Deutschland appelliert daher an die neue Bundesregierung und den neuen Bundestag, ihre Verantwortung für Kinder als Gesamtaufgabe ernst zu nehmen und Kinderrechte zu einer Kernaufgabe staatlichen Handelns zu machen.
I. Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland
Bereits mehrfach hat der Kinderrechtsausschuss der Vereinten Nationen der Bundesrepublik Deutschland eine Reihe konkreter, grundlegender Maßnahmen empfohlen. Sie sollen die vollständige Umsetzung der Kinderrechtskonvention gewährleisten – im Sinne einer konzertierten, wirksamen Politik für Kinder, die einen übergreifenden Ansatz verfolgt und langfristig geplant wird. Zuletzt wurden diese Empfehlungen im Jahr 2014 ausgesprochen.
UNICEF Deutschland hat in der vergangenen Legislaturperiode bereits konkrete Vorschläge zur Umsetzung dieser Empfehlungen gemacht, die wir hiermit bekräftigen:
1. Ausformulierung der Kinderrechte im Grundgesetz
Das Grundgesetz ist im deutschen Rechtssystem die Basis allen staatlichen und auch zwischenmenschlichen Handelns. Es ist damit die einzige Stelle, die aus Sicht von UNICEF Deutschland dafür geeignet ist, den Kinderrechten die zentrale Stellung einzuräumen, die sie in Politik und Gesellschaft brauchen.
Auch im internationalen Vergleich ist unser Grundgesetz eine starke, bürgernahe Verfassung mit unmittelbar einklagbaren Grundrechten. Eine Grundgesetzänderung würde damit auch den Vorgaben der Art. 3 und 4 KRK entsprechen. Denn von ihr ginge außerdem die nötige Ausstrahlung aus, damit Bund, Länder und Kommunen in Regierung, Verwaltung, Justiz und Behörden die in der UN-Kinderrechtskonvention verbrieften Rechte ernst nehmen und anwenden.
Kinder würden dann zum Beispiel mit einbezogen, wenn ihre Stadt einen Spielplatz umgestaltet oder eine Umgehungsstraße plant oder auch, wenn ein Gericht über den Verbleib bei den Pflegeeltern entscheiden muss. Kinder könnten sich selbst Unterstützung auch durch solche Beratungsleistungen einholen, auf die bisher nur ihre Eltern ein Anrecht haben.
Das Aktionsbündnis Kinderrechte (UNICEF Deutschland, Deutscher Kinderschutzbund und Deutsches Kinderhilfswerk; in Kooperation mit der Deutschen Liga für das Kind) hat bereits einen Formulierungsvorschlag für die Aufnahme von Kinderrechten ins deutsche Grundgesetz vorgelegt.
Dieser orientiert sich an folgenden Eckpunkten:
a) Vorrang des Kindeswohls bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen;
b) Recht des Kindes auf Anerkennung als eigenständige Persönlichkeit;
c) Recht des Kindes auf Entwicklung und Entfaltung;
d) Recht des Kindes auf Schutz, Förderung und einen angemessenen Lebensstandard;
e) Recht des Kindes auf Beteiligung in den es betreffenden Angelegenheiten und die Verpflichtung zur Berücksichtigung seiner Meinung, entsprechend Alter und Entwicklungsstand;
f) Verpflichtung des Staates, für kindgerechte Lebensbedingungen Sorge zu tragen. Zahlreiche Initiativen aus Bundestag und Bundesrat in den vergangenen Jahren zeigen, dass es auch in der Politik ein wachsendes Bewusstsein für die Dringlichkeit dieses Anliegens gibt.
UNICEF Deutschland empfiehlt der neuen Bundesregierung und dem neuen Bundestag, in der 19. Legislaturperiode einen Vorschlag für die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz vorzulegen und zu beschließen, dessen Formulierung den genannten Eckpunkten Rechnung trägt.
2. Anlauf- und Beschwerdestellen für Kinder
Das deutsche Rechtssystem ist zu wesentlichen Teilen für Erwachsene gemacht. Kinder haben selten selbst direkte Ansprüche auf Leistungen oder Angebote. Sie haben es nicht nur grundsätzlich schwerer als Erwachsene, ihre Interessen geltend zu machen, es ist für sie auch ungleich komplizierter, zu ihrem Recht zu kommen. Für die allermeisten Kinder ist es kaum denkbar, einen Prozess zu führen, sich auch nur mit einem Anwalt oder der Polizei in Verbindung zu setzen oder sich anderswo über Dinge wie unsichere Schulwege oder Luftverschmutzung zu beschweren.
In einer wachsenden Zahl von Staaten werden deshalb kindgerechte Anlauf- und Beschwerdestellen eingerichtet, an die sich Kinder selbst wenden können. UNICEF hat in einer weltweiten Studie dargelegt, welche wichtige Funktion für die Verwirklichung der Kinderrechte diese Stellen einnehmen. Kinder benötigen einen räumlich möglichst nah gelegenen, persönlichen Ansprechpartner.
Basierend auf diesen Ergebnissen empfiehlt UNICEF Deutschland in der 19. Legislaturperiode folgende Maßnahmen auf den Weg zu bringen:
Die Bundesregierung sollte eine gesetzliche Verpflichtung zur Einrichtung von Anlauf- und Beschwerdestellen für Kinder auf lokaler Ebene initiieren.
Die Bundesregierung sollte diese Anlaufstellen auch auf Bundesebene vernetzen und für einen Erfahrungsaustausch sorgen. Sie sollte für die Möglichkeit sorgen, solche Beschwerden auf Bundesebene anzubringen, für die auf lokaler Ebene keine Abhilfe geschaffen werden kann.
Die Bundesregierung sollte einen Überblick darüber haben und veröffentlichen, wo es die lokalen Anlaufstellen für Kinder gibt und wie diese ausgestattet sind.
3. Monitoring der Kinderrechte
Zwar ist eine ganze Reihe von staatlichen Stellen damit beauftragt, Daten zur Situation von Kindern zu erheben, wie beispielsweise das Statistische Bundesamt oder das Bundesverwaltungsamt. Doch fehlt zum einen eine Klärung darüber, welche Daten überhaupt relevant sind zur Messung der Fortschritte bei der Umsetzung der Kinderrechte in Deutschland. Zum anderen gibt es keine koordinierende Stelle der Regierung, bei der solche relevanten Daten zusammenlaufen, um daraus politische Empfehlungen für die einzelnen Ministerien und nachgeordneten Behörden abzuleiten.
So müssen beispielsweise die Erkenntnisse für die Staatenberichte Deutschlands an den UN-Kinderrechtsausschuss aufgrund der vielen beteiligten Ressorts, die sich zum großen Teil nicht per se für Kinder verantwortlich fühlen, derzeit mühsam zusammengetragen werden. Auch der UN-Ausschuss selbst zeigt sich besorgt, dass Deutschland kein umfassendes Datenerhebungssystem für alle vom Übereinkommen abgedeckten Bereiche hat. Eine stärkere Koordinierung des regierungsinternen Monitorings könnte gewährleisten, dass der nächste Staatenbericht, der im April 2019 fällig wird, eine klare Gesamtlinie zur weiteren Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention vorzeichnet.
Die beim Deutschen Institut für Menschenrechte eingerichtete unabhängige Monitoringstelle kann diese Aufgabe begleiten, soweit sie entsprechend gesetzlich und finanziell abgesichert ist. Die neue Bundesregierung sollte der regierungsinternen, überwachenden und koordinierenden Aufgabe Priorität einräumen, um besser informierte Entscheidungen im Sinne der Kinder in Deutschland treffen zu können. Daten, die über mehrere Jahre systematisch gesammelt werden, könnten auch die Wirkung politischer Maßnahmen sichtbar machen.
Deshalb empfiehlt UNICEF Deutschland:
Die neue Bundesregierung sollte eine Regierungsstelle einrichten oder eine existierende Stelle damit beauftragen, diese Aufgabe eines regierungsinternen Monitorings der Kinderrechte zu übernehmen.
II. Gleiche Rechte und Teilhabe für alle Kinder
Die UN-Kinderrechtskonvention fordert, dass alle Kinder die gleichen Rechte und Chancen haben. Kinder und Jugendliche müssen in ihrer individuellen Entwicklung so gefördert werden, dass die sich entfaltenden Möglichkeiten und Perspektiven auch eine Chance auf Realisierung haben. Dabei ist Bildung ein wichtiger Schlüssel für Integration und gesellschaftliche Teilhabe. Das Konzept des kindlichen Wohlbefindens bietet einen wichtigen Orientierungsrahmen für Maßnahmen zur Verbesserung der Chancengleichheit.
1. Investitions- und sozialpolitische Maßnahmen
UNICEF-Studien zum kindlichen Wohlbefinden zeigen, dass es Deutschland bisher trotz vieler Investitionen und einer vergleichsweise hervorragenden Wirtschaftslage nach der europäischen Finanzkrise nicht gelungen ist, wesentliche Indikatoren für das kindliche Wohlbefinden entscheidend zu verbessern. So ist auch die relative Kinderarmut in Deutschland weiterhin nicht verringert worden.
Wie es Kindern tatsächlich geht, hängt vom unmittelbaren Lebensumfeld ab. Eltern, die Zeit für ihre Kinder haben, gut ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrerinnen und Lehrer, Freizeit, Freunde – dies sind einige zentrale Faktoren für das kindliche Wohlbefinden. Eltern haben einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung sowie die Teilhabechancen ihrer Kinder. Dafür benötigen Eltern mit wenigen Ressourcen Unterstützung in ihren Erziehungs- und Bildungskompetenzen durch präventive Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe.
Daten und Berichte zur Lebenssituation der Kinder in Deutschland belegen deutliche regionale Unterschiede. So variiert die Zahl der Alleinerziehenden, deren Kinder in besonderem Maße von mangelnder Teilhabe betroffen sind, von Bundesland zu Bundesland, von Metropolregion zu ländlichem Umfeld. Auch die Ausstattung von Jugendämtern oder Kindertagesstätten oder die Angebote an Fördermaßnahmen und Freizeitaktivitäten zeigen kein einheitliches Bild.
Um Diskriminierung und einem Auseinanderdriften der Gesellschaft vorzubeugen, sind daher Infrastruktur- und Fördermaßnahmen so auszurichten, dass sie jeweils allen Kindern
zugutekommen können. Städte und Gemeinden müssen ein positives Umfeld schaffen, in dem Kinder und Jugendliche gehört und beteiligt werden und das Wohlergehen von Kindern politische Priorität bekommt.
Zur Verbesserung der Teilhabe und Chancengleichheit aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland empfiehlt UNICEF Deutschland für die kommende Legislaturperiode:
Bund, Länder und Kommunen sollten verstärkt in die Kinderfreundlichkeit von Städten und Gemeinden investieren. Dazu bietet die von UNICEF Deutschland und dem Deutschen Kinderhilfswerk nach internationalem Vorbild gestartete Initiative „Kinderfreundliche Kommunen“ den teilnehmenden Kommunen einen Handlungsrahmen.
Die Bundesregierung sollte sich für eine deutliche personelle und finanzielle Stärkung der Jugendhilfe (öffentliche wie freie Träger) bezüglich der Beratungs- und Angebotsstruktur einsetzen. Dadurch können Kinder und Jugendliche durch präventive Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe in ihrer Entwicklung gefördert, Benachteiligungen abgebaut und positive Lebensbedingungen für Familien mit ihren Kindern geschaffen werden.
2. Besondere Schutz- und Förderbedürftigkeit von nach Deutschland geflüchteten Kindern und Jugendlichen
Etwa 350.000 begleitete Kinder und Jugendliche und über 50.000 unbegleitete Minderjährige sind allein in den vergangenen beiden Jahren nach Deutschland eingereist und suchen hier eine neue Heimat. Aufgrund ihrer Fluchterfahrung und ihrer Lebenssituation sind geflüchtete Kinder und Jugendliche besonders unterstützungs- und schutzbedürftig. In den allermeisten Fällen benötigen ihre Eltern Beratung und Unterstützung, um bestmöglich für ihre Kinder sorgen zu können, da sie sich selbst in ihrer neuen Umgebung erst zurecht finden müssen, über wenig finanzielle Mittel verfügen und die deutsche Sprache noch nicht ausreichend beherrschen. In zahlreichen Fällen sind sowohl die Kinder selbst, aber auch ihre Eltern traumatisiert und benötigen psychosoziale Hilfe. Die Unterbringungssituation geflüchteter Menschen in Deutschland ist trotz zahlreicher Bemühungen oftmals nicht familien- oder kindgerecht.
Für das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen ist aber auch das familiäre Umfeld von großer Bedeutung. Der Integrationsprozess wird erschwert, wenn sie getrennt von Eltern und Geschwistern leben müssen und sich um das Wohl ihrer Eltern und anderer Familienangehörigen sorgen, weil sie auf der Flucht von ihnen getrennt wurden oder sich bereits im Heimatland von ihnen trennen mussten.
Unabhängig von ihrem Aufenthaltsort oder -status sind sie in erster Linie Kinder, die ein Recht auf Schutz, auf Zugang zu Bildung und auf Teilhabe an der Gesellschaft haben. Viele der geflüchteten Kinder und Jugendlichen lernen sehr schnell die deutsche Sprache und sind motiviert, sich mehr zu erarbeiten, wenn man ihnen die Möglichkeiten dazu bietet und sie dabei unterstützt. Sie sind häufig eine Brücke für die Integration der ganzen Familie.
UNICEF Deutschland empfiehlt deshalb dem neuen Bundestag und der neuen Bundesregierung:
Die derzeit geltende Aussetzung des Familiennachzuges für Personen mit subsidiärem Schutz ist im Sinne der Kinderrechtskonvention aufzuheben. Die Umsetzung des Rechts auf Familiennachzug soll durch einfache und flexible Verfahren ermöglicht werden. Dabei ist auch der Familienbegriff großzügiger zu fassen, der engste soziale Bindungen auch im erweiterten familiären Umfeld berücksichtigt.
Geflüchtete Kinder, Jugendliche und ihre Eltern sollten grundsätzlich so kurz wie möglich in Flüchtlingsunterkünften untergebracht werden. In Unterkünften, in denen Kinder leben, sollen deutschlandweit verbindliche familien- und kindgerechte Standards erfüllt und regelmäßig von den Aufsichtsbehörden überwacht werden. Dafür ist eine verpflichtende bundesgesetzliche Regelung notwendig, die sich an den von UNICEF und dem Bundesfamilienministerium mit Partnern entwickelten Mindeststandards der „Initiative zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften“ orientiert. Sie soll dem Schutz von geflüchteten Menschen und der Gewaltprävention in Flüchtlingsunterkünften dienen.
In Umsetzung der EU-Aufnahmerichtlinie sollte der Bund dafür sorgen, dass alle nach Deutschland geflüchteten Kinder spätestens drei Monate nach ihrer Ankunft in eine Schule gehen können. Auch für geflüchtete Jugendliche über 16 Jahren sowie junge Volljährige müssen flächendeckend Beschulungsmöglichkeiten geschaffen werden, die ihnen erlauben, einen Schulabschluss zu erwerben und eine Ausbildung zu beginnen. Das aufenthaltsrechtliche Verbot einer betrieblichen Berufsausbildung muss aufgehoben werden.
III. Weltweite Verantwortung für Kinder
Bereits heute steht fest, dass bei gleichbleibendem internationalem Engagement die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen bis zum Jahre 2030 nicht zu erfüllen sind – im Gegenteil, die Situation droht sich sogar zu verschlechtern. Setzt sich die bisherige Entwicklung fort, werden im Jahre 2030 beispielsweise mindestens 60 Millionen Kinder im Grundschulalter keine Schule besuchen, 167 Millionen Kinder immer noch in extremer Armut leben und in den nächsten 13 Jahren 69 Millionen unter fünf Jahren sterben.
Eine besonders große Herausforderung für die Umsetzung der Ziele der Agenda 2030 sind die Millionen von Kindern, die aktuell in Konflikt- und Krisenregionen leben oder aufgrund von Gewalt oder Folgen von Armut und Klimawandel ihre Heimat verlassen mussten. Zahlreiche Kinder erleiden auf der Flucht schwere Formen des Missbrauchs und der Ausbeutung, fast alle leiden Entbehrungen. Geflüchtete und migrierte Kinder sind überproportional oft mit Armut und Ausgrenzung konfrontiert. Es wird davon ausgegangen, dass im Jahre 2030 fast die Hälfte der in Armut lebenden Bevölkerung weltweit in Ländern leben wird, die von Fragilität, Konflikten und Gewalt geprägt ist – auch in Folge von Klimawandel und Umweltzerstörung.
1. Kinder als Akteure des Wandels in der Entwicklungspolitik
Kinder sind kein „Problemfeld“, das in einem bestimmten Sektor „behandelt“ werden kann. Kinder sind vielmehr eine zentrale Zielgruppe und Partner, die in allen Handlungsfeldern der deutschen Entwicklungspolitik eine tragende Rolle spielen.
Mit dem 2017 veröffentlichten Aktionsplan „Agents of Change – Kinder- und Jugendrechte in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit“ hat die deutsche Entwicklungspolitik einen ersten wichtigen Schritt gemacht, um mit einer erstmals verbindlichen Strategie die Relevanz von Kinderrechten – über kurzfristige politische Schwerpunkte hinaus – für die Nachhaltigkeit der deutschen Entwicklungszusammenarbeit zu unterstreichen.
Nachhaltige Veränderung zu bewirken, bedeutet auch, dass sich Strukturen und Investitionen im Rahmen des deutschen internationalen Engagements an die Veränderungen in den globalen Ansprüchen und Zielsetzungen anpassen und diese unterstützen müssen. Die 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030, ihre grundlegende Handlungsaufforderung „leaving no one behind“ sowie die dazugehörigen Indikatoren weisen hierbei alle eine direkte Verknüpfung zur UN-Kinderrechtskonvention auf. Sie bieten einen Orientierungs- und Analyserahmen – sowohl für notwendige Veränderungen in den Strukturen und zielgerichteten Investitionen der deutschen Entwicklungspolitik als auch für die Zielsetzung des kinderrechtlichen Engagements.
So bergen beispielsweise Programme und Projekte im Bereich des Klimaschutzes nicht nur die Möglichkeit, die gravierenden negativen Auswirkungen von Klimawandel und Umweltzerstörung auf Kinder zu vermindern, sondern können auch die Resilienz von Kindern langfristig stärken und sie zu aktiven Akteuren zur Verminderung der Risiken durch den Klimawandel machen.
Das gilt auch für bisher nicht ausreichend fokussierte und geförderte Bereiche. So ist es belegt, dass kein Stadium der Kindheit so prägend und entscheidend für die weitere Entwicklung eines Kindes ist wie die frühe Kindheit. Gezieltes entwicklungspolitisches Engagement für frühkindliche Entwicklung kann daher – auch über 2030 hinaus – einen Grundstein für nachhaltige Entwicklung legen.
UNICEF Deutschland empfiehlt dem kommenden Bundestag und der neuen Bundesregierung in der 19. Legislaturperiode deshalb, folgende Maßnahmen auf den Weg zu bringen:
Der BMZ-Aktionsplan „Agents of Change – Kinder- und Jugendrechte in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit“ sollte konsequent umgesetzt und mit konkreten Handlungszielen, Indikatoren, Verantwortlichkeiten sowie einer soliden Finanzierung unterlegt werden. Fortschritte bei der Umsetzung sollten regelmäßig überprüft, dokumentiert und in Berichten veröffentlicht werden.
Die Bundesregierung sollte durch faktenbasiertes Engagement und zielgerichtete Investitionen dafür sorgen, dass Kinder tatsächlich als „Agents of Change“ im Rahmen der 17 Ziele der Agenda 2030 agieren können. Dazu können Programme und Projekte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit nachhaltig beitragen, wenn die Bundesregierung sie stetig und umfassend auf ihre Auswirkungen auf kinderrechtliche Verpflichtungen überprüft. Diese Erkenntnisse sollten dann wiederum als Basis für das deutsche Engagement in allen Bereichen der Entwicklungszusammenarbeit genutzt werden – sowohl in bestehenden als auch neu zu erschließenden Schwerpunkten.
2. Kinder in und aus Krisenregionen
Deutschland spielt eine zentrale und verantwortungsvolle Rolle in internationalen Verhandlungen und Vereinbarungen und kann durch seine Unterstützung den gezielten Einsatz für Kinder in und aus Krisenregionen international stärken – ganz gleich woher ein Kind kommt oder wo es sich gerade befindet.
Ein besonders zentraler internationaler Verhandlungsprozess, in dem konkrete Maßnahmen für die Rechte von Kindern festgeschrieben und in den nächsten Jahren umgesetzt werden müssen, ist die Ausarbeitung von zwei Global Compacts der Vereinten Nationen bis 2018 – zum einen für ein verbessertes globales Engagement für geflüchtete Menschen (Refugee Compact), zum anderen für eine verbesserte weltweite Migrationspolitik (Migration Compact). Wie auch in der New Yorker Erklärung von 2016, aus der die Global Compacts hervorgehen und die auch Deutschland unterzeichnet hat, festgeschrieben, ist der Schutz der Rechte von geflüchteten und migrierten Kindern hierbei ein zentrales Element.
Eine ebenso zentrale und verantwortungsvolle Rolle hat die deutsche Bundesregierung auch in der praktischen Umsetzung von Maßnahmen zur Unterstützung von Kindern in und aus Krisenregionen. Sei es in Krisensituationen, auf der Flucht oder nach Ankunft in einem anderen Staat: Kinderschutzsysteme weisen in zahlreichen Ländern und Regionen besorgniserregende Lücken auf, Millionen Kinder haben keinen legalen Aufenthaltsstatus (z.B. aufgrund fehlender Identitätsdokumente oder Geburtenregistrierung) und ihnen wird der Zugang zu grundlegenden sozialen Dienstleistungen wie Bildung oder Gesundheit verwehrt. Viel zu viele Kinder befinden sich ohne Familienangehörige und ungeschützt in zahlreichen Ländern, u.a. aufgrund fehlender Mechanismen für einen am Wohl des Kindes orientierten Familiennachzug.
Eine spezifische und konkrete Agenda der deutschen Bundesregierung, wie Deutschland den weltweiten Herausforderungen und Schutzlücken für Kinder in und aus Krisenregionen begegnet, existiert bisher jedoch nicht.
Die Komplexität der globalen Herausforderungen, u.a. durch zunehmende langandauernde Konflikt- und Krisensituationen, macht außerdem ein Zusammendenken „traditioneller“ Unterstützungsstrukturen, wie der humanitären Hilfe, der Übergangshilfe und der Entwicklungszusammenarbeit, dringender als je zuvor. Denn der Schutz und die Förderung von Kindern dürfen nicht an der Trennung von Sektoren oder Ressorts scheitern.
UNICEF Deutschland empfiehlt dem kommenden Bundestag und der neuen Bundesregierung in der 19. Legislaturperiode deshalb, folgende Maßnahmen auf den Weg zu bringen:
Die Bundesregierung sollte sich in allen internationalen politischen Verhandlungen, Entscheidungsprozessen, Vereinbarungen und Verträgen aktiv für konkrete Maßnahmen für die Sicherheit, den Schutz und die Förderung von Kindern in und aus Krisen- und Konfliktregionen einsetzen. Dies gilt beispielsweise für zentrale politische Verhandlungen wie die G7- und G20-Gipfel und die Ausarbeitung der neuen Global Compacts für Flucht und Migration.
Für Kinder in und aus Krisenregionen sollte die Bundesregierung klare kinderrechtliche Zielvorgaben entwickeln, die sich an den zentralen Herausforderungen für diese Kinder orientieren. Daraus abgeleitete konkrete Maßnahmen müssen prioritär darauf abzielen, sie besser zu schützen, ihnen den Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung sowie die Zusammenführung mit ihren Familien zu ermöglichen. Sowohl politisch als auch finanziell sollte die Bundesregierung sich verstärkt dafür einsetzen, dass Kinder unmittelbar unterstützt werden und das Kindeswohl in allen Belangen oberste Priorität hat – unabhängig von deren Aufenthaltsstatus oder ihrem Aufenthaltsort.
Auch in langandauernden und komplexen Notsituationen und Krisen sollten der Schutz von Kindern vor Gewalt und Ausbeutung und der Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung durchgängig eine Priorität für die deutsche Bundesregierung sein. Hierfür ist es notwendig, durch innovative und flexible Strukturen Lücken in der Reaktion zu schließen und humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit sowie auch verschiedene relevante Sektoren enger zu verzahnen.
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» Eine Politik für Kinder: Empfehlung von UNICEF Deutschland zur Legislaturperiode 2017 bis 2012