Im Jemen droht eine Hungersnot – doch was bedeutet das?
Seit Ende letzten Jahres warnen Experten: Der Jemen steht am Rande einer Hungersnot. Doch was heißt das? Wir schauen auf Begrifflichkeiten und aktuelle Zahlen. Aber auch auf die Schicksale dreier Mädchen, die gegen den Hunger kämpfen.
"Die Chance, eine Hungersnot im Jemen noch zu verhindern, schwindet mit jedem Tag." So warnten UNICEF, das Welternährungsprogramm und die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen im Dezember gemeinsam.
Es ist nicht das erste Mal, dass wir im Zusammenhang mit dem Bürgerkriegsland diese dringliche Warnung hören. Die Situation im Jemen ist katastrophal, schon mehrfach stand das Land am Abgrund. Doch aktuell ist die Lage der Familien so verheerend wie nie.
Jemen: Die schlimmste humanitäre Krise der Welt
Der Jemen wird eine "Hölle auf Erden" genannt. 2015 eskalierte der Bürgerkrieg. Seitdem wird die Situation für die Menschen immer bedrohlicher. Nicht nur die Gefechte selbst, sondern auch die unmenschlichen Lebensbedingungen bringen sie in Gefahr. Lebensmittel sind extrem teuer. Gleichzeitig haben viele Familien kein Einkommen, die Wirtschaft liegt am Boden. So können sich viele keine regelmäßigen Mahlzeiten leisten.
Die Folge: Die Menschen hungern. Mehr als 24 Millionen Menschen im Land sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das sind 80 Prozent der Bevölkerung. Die Situation zwingt Eltern jeden Tag, furchtbare Entscheidungen zu treffen: Fliehen oder bleiben wir? Kaufen wir für unsere Kinder heute etwas zu essen oder Trinkwasser? Können wir uns eine medizinische Behandlung für unser krankes Kind leisten?
Hunger und Mangelernährung im Jemen: So viele Kinder in Gefahr wie nie
Aktuellen Zahlen zufolge sind im Jemen 400.000 Kinder lebensbedrohlich mangelernährt. Das bedeutet, dass sie sofort Hilfe brauchen – denn sie kämpfen jeden Tag um ihr Leben. Unsere Experten schätzen, dass 2,3 Millionen Kinder unter fünf Jahren im Verlauf des Jahres 2021 an akuter Mangelernährung leiden werden. Für jedes dieser Kinder gilt: Werden sie nicht behandelt, geraten auch sie schnell in Lebensgefahr.
- 2,3 MioKinder unter 5 Jahre
werden im Jemen im Jahr 2021 an akuter Mangelernährung leiden
- 400.000Kinder unter 5 Jahren
sind so stark unterernährt, dass ihr Zustand lebensbedrohlich ist
- 289.000Kinder unter 5 Jahren
wollen wir von UNICEF im Jahr 2021 gegen schwere akute Mangelernährung behandeln
Warum wurde im Jemen bislang keine Hungersnot ausgerufen?
Im Alltag sprechen wir von einer "Hungersnot", wenn in einer Region viele Menschen nichts oder nicht genug zu essen haben. Tatsächlich aber gibt es bestimmte Kriterien, nach denen eine Hungersnot ausgerufen wird. Das machen dann ganz offiziell die Vereinten Nationen oder die Regierung des jeweiligen Landes.
Grundlage für die Entscheidung, ob eine Hungersnot vorliegt oder nicht, ist die Einschätzung einer internationalen Arbeitsgruppe nach den sogenannten "IPC-Phasen". IPC steht für "Integrated Food Security Phase Classification". Es handelt sich also um eine Skala für Ernährungssicherheit. Sie kennt fünf Phasen und die fünfte ist die Hungersnot.
Bei Phase 5 erleben zahlreiche Familien akute Nahrungsmittelknappheit, weil sie kaum Geld für Lebensmittel und auch nicht für andere lebenswichtige Dinge wie Trinkwasser haben. Besonders ausschlaggebend für eine Hungersnot ist auch, dass mehr als 30 Prozent der Kinder unter fünf Jahren an akuter Mangelernährung leiden.
Im Jemen wurde aktuell keine Hungersnot ausgerufen. In Kriegs- und Krisenländern sind die Daten für die IPC oft unvollständig. Deshalb ist es eine große Herausforderung, die Situation der Menschen auf Basis der vorliegenden Daten präzise zu beschreiben. Das klingt sehr technisch und auch zynisch, wenn man auf die verheerende Lage der Menschen im Jemen schaut. Dennoch ist es wichtig, dass es klar definierte, einheitliche Kriterien für das Ausrufen einer Hungersnot gibt und dass diese beachtet werden. Ohne sie würde die Gefahr steigen, dass der Begriff "Hungersnot" politisch instrumentalisiert wird.
Gleichzeitig gehen unsere Experten davon aus, dass in einigen Regionen im Jemen die Lebensumstände der Menschen bereits denen einer Hungersnot gleichen. Auch wenn offiziell keine Hungersnot ausgerufen wurde, sind Kinder jeden Tag in Lebensgefahr.
Laut der aktuellen IPC vom Dezember 2020 könnte sich die Zahl der Menschen, die unter katastrophalem akuten Hunger leiden, zwischen Januar und Juni in diesem Jahr fast verdreifachen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass die Zahl der Menschen in Phase 4 – der Krisenphase am Rande zur Hungersnot – in der ersten Hälfte des Jahres 2021 von 3,6 Millionen auf fünf Millionen Menschen ansteigen könnte.
Am Rande der Hungersnot: Die Geschichten dreier Mädchen
Nour: Erste zögerliche Schritte
Das neun Monate alte Mädchen Nour litt an Mangelernährung. Hier erzählt Mutter Souad die Geschichte ihrer Tochter:
"Als Nour geboren wurde, war sie schwach und dünn. Mit jedem Tag wurde sie kränker", erzählt Souad. "Wir konnten ihr nicht helfen, denn an vielen Tagen leiden wir selbst Hunger. Dann essen wir zu Mittag entweder Brot oder Joghurt. Abends bringt mein Mann manchmal etwas zu essen mit. Aber drei Mahlzeiten pro Tag gibt es bei uns fast nie."
"Mein Mann ist arbeitslos, aber jeden Morgen geht er los und sucht Arbeit. Unterwegs sammelt er leere Plastikflaschen von der Straße. Die verkauft er, um uns etwas zu essen zu kaufen", sagt Souad. "Ich stille Nour, aber sie wird fast nie satt, denn ich habe nicht genug Milch. Das Stillen strengt mich sehr an, ich fühle mich erschöpft. Das wirkt sich auch negativ auf die Gesundheit meines Babys aus."
Als Nour ins Gesundheitszentrum kam, wog sie knapp fünf Kilo. Viel zu wenig für ein neun Monate altes Baby. Die Helfer gaben ihr Spezialnahrung und Mikronährstoffe, die von UNICEF geliefert wurden.
"Wir haben sie wöchentlich untersucht", sagt der Ernährungsspezialist im Gesundheitszentrum. Heute ist Nour außer Gefahr. Sie hat die Mangelernährung, die ihr beinahe das Leben genommen hätte, besiegt.
Besonders schön: Nour hat nun auch angefangen zu laufen. Sie macht ihre ersten, zögerlichen Schritte und spielt viel. "Ich bin so froh, dass mein Baby gesund und stark ist", sagt ihre Mutter Souad. "Sie war immer so müde. Jetzt spielt sie. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl zu sehen, wie dein Kind endlich gesund wird."
Bulqis und Arwa: "Ich mache mir große Sorgen"
Die Schwestern Bulqis und Arwa sind anders als Nour leider noch nicht über den Berg. Arwa ist 14 Monate alt, Bulqis zweieinhalb Jahre. Beide leiden an akuter Mangelernährung.
Die Mädchen leben mit ihren Eltern in einem Vertriebenencamp in Mareb. Ihr Vater Mohammed Moharram Sa'ad Al-Oshari floh mit seiner Familie vor den Gefechten.
"Vor dem Krieg habe ich als Zimmermann gearbeitet. Mein Leben und das meiner Familie war gut. Nun bin ich arbeitslos", sagt Mohammed. Die Familie bekommt vom Welternährungsprogramm einmal im Monat einen Korb mit Lebensmitteln. Doch die Hilfe reicht nicht.
"Der jahrelange Krieg hat uns schwer gezeichnet", sagt Mohammed. "Wir sind müde und erschöpft angesichts unserer Lebenssituation. Ich vermute, dass unsere schwierigen Lebensbedingungen meine Töchter krank gemacht haben."
Bulqis und Arwa bekommen mit Unterstützung von UNICEF Spezialnahrung, um die Mangelernährung zu überwinden. Ihr Vater füttert sie ihnen zuhause. "Es geht ihnen schon etwas besser", sagt Mohammed. Doch er macht sich weiter große Sorgen: "Der Krieg muss aufhören. Wir alle hier im Jemen müssen neu anfangen können, in Frieden."
Hungersnot im Jemen verhindern: Noch ist Zeit zu handeln
"Die Welt darf nicht tatenlos zusehen, wie der Jemen in eine Hungersnot abrutscht und Millionen besonders gefährdete Kinder und Familien hungern", sagt UNICEF-Exekutivdirektorin Henrietta Fore. "Wir haben schon einmal eine Hungersnot im Jemen verhindert und wir sollten in der Lage sein, sie erneut abzuwenden, mit verstärkter Unterstützung und ungehindertem Zugang zu jedem Kind und jeder Familie in Not."
Jede Spende macht einen Unterschied
Wir von UNICEF sind an der Seite der Kinder im Jemen. Unsere Helfer untersuchen so viele Mädchen und Jungen wie möglich auf Manglernährung. Denn wenn die Krankheit früh erkannt wird, sind die Überlebenschancen für die Kinder gut.
Akut mangelernährte Kinder behandeln wir mit Spezialnahrung wie Erdnusspaste und Spezialmilch. Die Behandlung ist nicht teuer: Erdnusspaste für ein Kind für einen Monat kostet 29 Euro. In der Regel braucht das Kind anderthalb Monate lang täglich drei Päckchen Erdnusspaste, bis es gesund wird.
Helfen Sie den Kindern im Jemen
Schicken Sie mangelernährten Kindern mit Ihrer Spende Spezialnahrung wie Erdnusspaste und Spezialmilch. Ihre Hilfe kann Kinderleben retten.