Unterwegs für UNICEF: Philippinen
Kinderschutz umfasst bei UNICEF viele Teilbereiche: Zum Beispiel Straßenkinder auffangen oder Kinderpornographie und Prostitution bekämpfen. Das sind auf den Philippinen zwei ganz zentrale Handlungsfelder. Und die Realität dahinter ist unbeschreiblich grausam.
Nägel mit Köpfen: So geht Kinderschutz auf den Philippinen
Ich bin diesen Monat viel in Tacloban unterwegs, der Hauptstadt der philippinischen Provinz Leyte. Hier dokumentiere ich die Projekte für Straßenkinder. Ihre Geschichten gehen an die Nieren und hinterlassen deutliche Spuren bei mir und den Kollegen. Doch was das Team vor Ort für sie leistet, ist wahnsinnig geradlinig und erfolgreich.
Die vergessenen Kinder: Auf sich gestellt und drogenabhängig
Es ist schwer, die Szenerie zu beschreiben. Maulid Warfa, Leiter von UNICEF Tacloban, und Faye Balanon, Leiterin Kinderschutz in Tacloban, sind heute mit mir im Süden der Stadt Tacloban unterwegs, am Stadtrand. Die abseits gelegene Straße ist dreckig und voller Müll, Kakerlaken und Ratten rennen durch die Berge an Unrat. Es riecht nach altem Urin.
Am Rand steht ein verlassenes, halb zerstörtes Gebäude, von dem der Putz bröckelt. Aus Fenstern und Löchern in der Außenwand schimmern mich viele neugierige Augenpaare an. Kleine Köpfe lugen hervor. Während ich mit Faye und Maulid näher komme, sehe ich immer mehr Kinder. Sie schlafen und sitzen auf Pappe, unter Wellblech, auf dem Bordstein. Von wenigen Monaten alten Babys bis hin zum Teenageralter sind hier alle Altersgruppen vertreten. Ich sehe nur drei Erwachsene.
Die Eindrücke überfluten mich. Alle schlimmen Schicksale, vor denen man sein Kind beschützen möchte, finden sich in den Straßen Taclobans zuhauf. Faye hat mich vorbereitet, aber die Realität ist dann ja doch immer noch anders: Drogenabhängige Kinder. Mädchen und Jungen, die arbeiten müssen, sich prostituieren, krank sind. Aber die gute Nachricht direkt am Anfang, bevor Sie frustriert werden: UNICEF und unser Partner leisten verdammt gute Arbeit hier.
Unser Partner ist in dem Fall die Stadt, konkreter das Gesundheits- und Sozialamt der Stadt, erklärt Faye. Das Amt schickt mobile Sozialarbeiter, die UNICEF speziell ausgebildet hat, drei- bis viermal wöchentlich in die Straßen zu den Kindern. In nicht immer sichere Regionen. Wir setzen uns an die kleinen weißen UNICEF-Tische, wo die Betreuer Amy, Dave und Maria bereits mit den Mädchen und Jungen spielen und auf uns warten. Direkt sind wir von Kindern umringt, die mich prüfend anstupsen, schüchtern mein Haar anfassen (fühlt sich das vielleicht anders an?) und sich an mich kuscheln. Faye stellt mich vor, setzt sich und nimmt eines der Babys auf den Schoß. Ich komme direkt mit Dave ins Gespräch über seine bisherigen Erfahrungen.
Begleiten Sie mich durch den Tag
„UNICEF ist wie eine Familie”
Dave Mercado ist erst 19 Jahre alt und arbeitet seit einigen Monaten für den „mobilen kindersicheren Ort”. Dreimal die Woche besuchen er und seine Kollegen einen Tag lang die Mädchen und Jungen in der Straße. Mit dem UNICEF-Auto fährt Dave zu den Kindern und bringt die Möbel, Spielsachen und Tische mit – alles von UNICEF, wie ich noch immer beeindruckt feststelle. Viele dieser Hilfsgüter kannte ich noch gar nicht. An den Tischen kommen dann alle „Bewohner” zusammen und reden über Sorgen und Probleme. So wie auch heute. Ich denke, sie sind froh, auf richtigen Möbeln zu sitzen und Betreuer zu haben, die ihnen konkret helfen können.
Eines der Kinder, ein Junge, hat eine dicke Eiterbeule am Arm. Die Sozialarbeiterin Amy fragt Faye direkt, welche Möglichkeiten es gibt, ihn zu behandeln. Faye diktiert ihr in Filipino alle Infos. Amy macht sich daraufhin auf die Suche nach Eltern, Geschwistern oder sonstigen Betreuern, um alles in die Wege zu leiten. Es gibt einige Gesundheitszentren, die durch UNICEF-Förderung Kinder kostenfrei behandeln. Doch es gibt hier nicht nur Infos für die Mädchen und Jungen. Je nach Alter lernen die Kids Malen, Lesen und Schreiben, spielen mit den Kuscheltieren oder Fußbällen. Die Kooperation liefert auch Snacks für diese Tage, die für die immer hungrigen Kinder ein Highlight sind.
Was habe ich mit 19 Jahren gemacht, frage ich mich unwillkürlich, als ich Dave sehe, kleine Statur, ernsthaft, ruhig, besonnen und sehr sehr konzentriert auf seine Schützlinge. Etwas überwältigt von all den Eindrücken und Infos in so kurzer Zeit gehe ich die Straße auf und ab und schaue mir alles konzentriert an. Mir fällt nicht zum ersten Mal auf, dass fast alle Kinder an einer Tüte mit gelbem Inhalt nuckeln, der sich als Sättigungsdroge „Rugby” herausstellt. Rugby ist ein Klebstoff, der für die Herstellung von Rugby-Bällen genutzt wird und daher seinen umgangssprachlichen Namen hat.
Ich erfahre von Dave, dass Rugby billiger ist als Nahrung, umgerechnet 10 Cent kostet eine Tagesration. Die Kinder essen oder schnüffeln Rugby und fühlen sich danach den ganzen Tag satt, selbst wenn sie nur wenig oder sogar gar nichts Richtiges essen. Ich sehe einen vielleicht fünfjährigen Jungen, der während unseres Aufenthaltes Rugby schnüffelt und schließlich total zugedröhnt einschläft. Hunger, Armut, Krankheit, Obdachlosigkeit – ein riesengroßer Berg an Problemen tut sich auf nur wenigen Quadratmetern auf.
Nach mehreren Stunden schließlich brechen wir auf zurück ins Büro. Ich frage Maulid, was er zu dem Projekt meint. „Es ist ein sehr gutes Projekt. Es wird nicht alle Kinder retten, aber jedes Kind zählt, oder?“, antwortet er mir. Er sagt allerdings auch, dass der Finanzbedarf für das Projekt nicht ausreichend gedeckt ist, um über 2015 hinaus sicher zu bestehen. Er muss mit dem Manila-Hauptbüro sprechen, um das abzuklären.
Zurück am Arbeitsplatz bereite ich die Bilder auf und schreibe schnell alle Infos zusammen, um sie in Manila final zusammenzustellen. Am nächsten Tag breche ich dann dorthin auf, zurück in die Hauptstadt.
Kinderschutz groß machen bedeutet, auch politisch aktiv zu sein
Wenn wir Ihnen bei UNICEF sagen, wir arbeiten mit der Regierung zusammen, dann können Sie sich darunter wahrscheinlich nicht immer Konkretes vorstellen, oder?
Gestern war so ein Tag mit Regierungsvertretern in Manila, ein schwüler Donnerstag mit Regengüssen und überfluteten Straßen. Sarah Norton-Staal (Leiterin Kinderschutz Manila) und Marge Ardivilla (Koordinatorin Kinderschutz) nahmen mich mit zu einem Treffen mit Vertretern des Gesundheitsamtes, des Kinderschutzbundes und weiteren politisch aktiven Aktivisten für Kinder, um ein entscheidendes Dokument zu verabschieden. Das besagte Dokument regelt für die kommenden eineinhalb Jahre alle Details über den Ablauf der – lange geplanten – nationalen Kinderschutzstudie. Hier soll mit allen Kräften ermittelt werden, wie viel Kinder arbeiten müssen, sich prostituieren, auf der Straße leben oder eben auch Opfer von Online-Pornographie werden. Es geht um Vertragspunkte wie: Wer stellt die Interviewer ein, die im Land herumreisen und die Fragebögen durchgehen, wer kümmert sich um das Budget und wer evaluiert was wann? UNICEF ist an diesem Tag am Tisch Geldgeber und als Vermittler zwischen den Parteien tätig. Und das ist auch schwer nötig, stelle ich fest. Denn es wird viel diskutiert, wenn es um Verantwortlichkeiten und Kosten geht. Da kann schon einmal eine Stunde damit vergehen, über Reisekosten der beteiligten Arbeiter zu sprechen oder über die leitenden Ansprechpartner.
Wozu erst eine Kinderschutzstudie?
Weil die Täter und Strippenzieher mächtig und schwer angreifbar sind. Pädophile Online-Sex-Suchende, Besucher von Kinderprostituierten, gewalttätige Kinderschlepper. Sie kommen aus den Philippinen aber auch aus aller Herren Länder, aus den USA, aus Deutschland… Und Janet Pagirigan vom philippinischen Sozialamt sagt mir, dass solche Männer auch im Kabinett der philippinischen Regierung sitzen. Ein offenes Geheimnis, wie so oft.
Sie sagt, dass diese Männer die Gesetze zur Aufdeckung von Tätern blockieren. Ein großes, dunkles Rattenloch, das langsam und sensibel erkundet werden muss, um erfolgreich ausgerottet zu werden.
Bevor also konkrete Maßnahmen zum Einsatz kommen, muss erst mal statistisch erhoben werden, wie die Ausgangslage ist. Sarah erklärt mir, dass diese Studie ein großer Durchbruch ist, für den sie monatelang gekämpft haben. Besonders das Problem Online-Kinderpornographie breitet sich auf den Philippinen immer weiter aus. Das haben Undercover-Projekte wie „Sweetie” mehr als deutlich gezeigt, wenn auch auf umstrittene Art und Weise. Die Vereinten Nationen schätzen, dass täglich 750.000 Männer auf einschlägige Webseiten kommen, um Kinder via Webcam zu belästigen. Darunter viele philippinische Kinder, vor allem Mädchen. Deswegen ist die Studie der Anfang, etwas Greifbares zu schaffen, das Zahlen und Fakten bringt, mit denen gekämpft werden kann. Nach fast fünf Stunden stehen die letzten Vertragsänderungen fest und alle Parteien unterzeichnen das Abkommen. Aber es gibt doch dieses Sprichwort: Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Und der ist gemacht worden.
Begleiten Sie mich die kommenden Wochen
Ich berichte unter anderem aus dem Konfliktgebiet Cotabato auf der muslimisch geprägten Insel Mindanao. Dort mussten viele Kinder vor den Angriffen der Rebellen flüchten und können nicht mehr zur Schule gehen.
Haben Sie noch Fragen?
Sie haben Fragen an mich, einen meiner erwähnten Kollegen oder vielleicht auch an ein Kind? Schreiben Sie mir im Kommentarbereich und ich werde versuchen, so viele Fragen wie möglich zu beantworten.
Hier geht es zu meinem ersten Blog Willkommen in Manila.