Nina Ruge in Kambodscha
Mein erstes Mal in Kambodscha – und mein erster Eindruck: Ein Schock. Mir war klar, dass die große Mehrheit der Menschen hier in bitterster Armut lebt. Doch der Absturz aus Armut in unfassbare Verwahrlosung – das zu erleben in einem der Armenviertel von Phnom Penh, das ist mehr als bitter. Geschätzte 2000 Menschen vegetieren dort ausgerechnet auf einem aufgelassenen Friedhof, der mal ein prächtiger gewesen sein muss. Düstere Bretterverschläge zwischen den verfallenen, hübsch gefliesten Grabkammern. Vor den Hütten, um die Hütten herum, in den Hütten und vor allem in den brackigen Lagunen darum herum: Berge von Dreck und Müll. Familien, wenn sie denn intakt sind, hausen auf kleinstem Raum, die Kinder starren vor Schmutz, wo sollen sie sich auch waschen. Verflohte Hunde turnen durch den Matsch, es ist Regenzeit. Aids, Gewalt, Drogen grassieren – und vor allem Lethargie.
Da entdecken wir eine fröhlich quietschende Kindergruppe, inmitten besonders pittoresk verwitterten Gräbern. Spiel- und Lernstunde der Organisation, die sich hier um Straßenkinder kümmert. „Mith Samlanh“ ihr Name, das ist Khmer und bedeutet „Freunde“. Diese Freunde sind eine Partner-Organisation von UNICEF in Phom Penh. Hier lernen so um die 20 Kinder zwischen drei und sechs Jahren gerade, konzentriert auf ein Blatt Papier zu malen. Wenige Schritte weiter spricht ein Mith Samlanh-Mitarbeiter mit sechs Halbwüchsigen über die Seuche Aids und wie sie sich und ihre Sexualpartner schützen können.
Wir fahren in eines der fünf Zentren der „Freunde“, und da hellt sich meine Stimmung auf. Rund 800 Kinder kommen jeden Tag hierher, rund 800 Kinder bauen sich hier ihre Zukunft auf. Über die Hälfte von ihnen sind aus den Armenvierteln, der Rest hat auf der Straße gelebt. Wenn sie bereit sind dazu und wirklich wollen, dann bildet Mith Samlanh sie hier für ein Leben in Selbständigkeit aus. Friseure und Friseurinnen sind hier in Gruppen in der Lehre, Schweißer, Schneiderinnen und Schneider, Elektroinstallateure, Köche und Köchinnen, Mädchen, die professionelle Nagelstudios eröffnen wollen. Dazu kommt Unterricht in Englisch, Geschichte und Buchhaltung. Wer seinen Schulabschluss nachmachen will, wird hier fit gemacht. Und wer zu jung ist für das alles, darf in den Krabbel- oder Vorschulgruppen Malen, lernen, singen.
Chap ist schätzungsweise fünf. Ein schüchterner, besonderer Junge. Sein Vater ist drogenabhängig und gewalttätig, er schickte Chap auf Betteltouren, weil er so süß und unschuldig aussieht. Vor sieben Monaten ist Chaps Vater verschwunden. Wo seine Mutter war, daran erinnert er sich nicht. Die „Freunde“ suchten nach Verwandten in seiner Heimatregion. Sie fanden niemanden. Seit sieben Monaten lebt Chap nun schon in einem der Heime, die Mith Samlanh betreibt. Nun hat man sich entschieden, Pflege-Eltern für ihn zu finden.
Gut, wenn man solche „Freunde“ hat, dachte ich – und gut, dass die „Freunde“ auch Freunde von UNICEF sind, dachte ich, als wir uns verabschiedeten. UNICEF unterstützt Mith Samlanh schon seit 15 Jahren, und dieses Wissen tut gut – besonders, wenn ich die Bilder aus den Armenvierteln vor mir sehe.
Reisetagebuch Nina Ruge
» Tag 1: Nina Ruge in Kambodscha
» Tag 2: Gesundheitsversorgung im Armenviertel
» Tag 3: Sanitär und Hygiene in der Schule
» Tag 4: Kampf gegen Arsen