Nepal: Die Kinder im Nach-Beben-Land, Teil 1
Sechs Monate nach den schweren Erdbeben in Nepal ist UNICEF-Geschäftsführer Christian Schneider in das kleine asiatische Land gereist und hat beeindruckende Bilder und bewegende Geschichten mitgebracht.
In dem halben Jahr nach dem ersten großen Erdbeben hat UNICEF bereits vielen Menschen und vor allem Kindern geholfen. Doch Hunderttausende leiden immer noch unter den Folgen der Katastrophe, und nun steht der Winter vor der Tür.
Lesen Sie in unserer Blog-Serie „Nepal: Die Kinder im Nach-Beben-Land“, wie sich die Menschen im Obdachlosen-Lager in Kathmandu gegenseitig helfen, wie die erste Baby-Generation nach den Beben das Licht der Welt erblickt hat und wie die starken Frauen im Bergdorf Bhirkot für ihre Kinder kämpfen.
Teil 1: Besuch im Obdachlosen-Lager in Kathmandu
So hilft UNICEF den Erdbebenopfern mit Spenden aus Deutschland
Um fünf vor zwölf an jenem Samstag, dem 25. April, war für die meisten Menschen in Nepal die Welt noch in Ordnung. Die Bauern kümmerten sich um das Vieh oder waren auf dem Feld. Die Schulkinder spielten draußen oder halfen den Eltern. Und das war ihr Glück. Denn nur eine Minute später stürzte all das, was sie Alltag nannten, zusammen: Mit einer Stärke von 7,8 auf der Richterskala bebte die Erde, als wollten die tektonischen Platten das kleine Land zwischen Indien und China zermalmen und das Himalaya-Gebirge zu neuen Rekordhöhen hinaufschieben.
In Panik rannten die Menschen die Treppen ihrer einstürzenden Häuser hinunter, die wie Gelee unter ihren Füßen wankten. Viel zu viele waren nicht schnell genug. Das große Beben und sein fast ebenso starker Bruder, der Nepal am 12. Mai einen weiteren Stoß versetzte, forderten beinahe 9000 Todesopfer. 2737 Kinder kamen ums Leben.
Ein halbes Jahr und mehr als 400 Nachbeben später sitzen die Angst und die Trauer den Menschen noch in den Gliedern. Hinter ihnen türmen sich die Trümmer, vor ihnen tut sich der Abgrund verschärfter Armut auf. Mehr als 600.000 Häuser wurden völlig zerstört, über 47.000 Klassenräume und 765 Gesundheitseinrichtungen verwüstet oder beschädigt.
Im Erdbebengebiet traf ich vor wenigen Tagen Menschen, die sich mit zähem Überlebenswillen und großer Hilfsbereitschaft der Not entgegenstemmen. Mütter, die zwischen Ruinen die erste Kindergeneration nach dem Beben zur Welt brachten, und UNICEF-Kollegen, die seit einem halben Jahr Hilfe für die obdachlosen Familien mobilisieren.
Mit Ihrer Unterstützung: 8,7 Millionen Euro gaben die UNICEF-Spender in Deutschland binnen weniger Tage für die Nothilfe in Nepal. Damit kam fast jeder zehnte Euro für die UNICEF-Arbeit in Nepal aus Deutschland. Doch gerade für die harten Wintermonate in den betroffenen Bergregionen ist UNICEF weiter dringend auf Spenden angewiesen.
Im Obdachlosenlager Chucchepati – Aufbruch ins Ungewisse
Wenn die Kameraleute von CNN und anderen großen Sendern die Misere der Erdbebenopfer sechs Monate nach der Katastrophe dokumentieren wollen, ist das Dach des tibetanischen Klosters am Rande des Lagers Chucchepati ein guter Ort. Aber sie müssen sich beeilen: Etwa 800 einfache Zelte stehen noch auf dem zentral in der Hauptstadt Kathmandu gelegenen Platz.
Vor Wochen waren es fast doppelt so viele, dicht an dicht. Doch spätestens seit mit Dashain ein zentrales Fest vor der Tür steht, versuchen immer mehr obdachlose Familien, das Geld und die Kraft für den Rückweg in ihre Dörfer aufzubringen. An Dashain will jeder bei der Familie sein – auch wenn es für die Erdbebenopfer, die in Chucchepati gestrandet sind, ein Aufbruch ins Ungewisse ist.
Endlich zurück zu den Freunden
„Ja, wir sind aufgeregt, wir freuen uns auf unsere Freunde“, sagt der neunjährige Rupesh, der mit seinem Bruder Dipesh (8), seinen Eltern Bimal Thami und Goma Thami und einem Onkel zwei Monate nach dem Beben auf der Suche nach einer Notunterkunft hierher kam.
Heute packen sie die geretteten Habseligkeiten ein, auch die Plane des Zeltes, denn ihr Haus ist nach wie vor unbewohnbar. Es drohen weitere Bergrutsche, ein leichter Neuanfang wird das nicht. Stündlich verabschieden sich weitere Familien aus dem Lager, die freien Flächen im Camp werden größer, zurück bleiben Zeltgerippe aus Ästen.
Lebenswichtige UNICEF-Hilfe: Trinkwasser
Auch ein halbes Jahr nach den Erdbeben bleibt die direkte UNICEF-Hilfe für die obdachlosen Familien von lebenswichtiger Bedeutung. Schon in den ersten Tagen nach der Katastrophe hatte UNICEF, auch dank der Spenden aus Deutschland, die Versorgung der Betroffenen mit sicherem Trinkwasser aufgebaut.
Denn auch in diesem Bereich war der Großteil der Infrastruktur zerstört, waren Wasserleitungen auseinandergerissen und Wasserwerke eingestürzt. Lastwagen brachten sofort frisches Wasser in die Lager. Allein im Camp Chucchepati liegen vier große UNICEF-Wassertanks, die bis heute Tag für Tag mit 15.000 Litern befüllt werden.
260 UNICEF-Helfer setzen mehr als 1000 Tonnen Hilfsgüter für die Opfer ein
Noch immer gibt es allein in Kathmandu sieben Obdachlosenlager. Insgesamt leben in den 14 besonders betroffenen Distrikten weiter rund 60.000 Menschen in 120 einfachen Camps. Diese Zahl umfasst nicht die Hunderttausenden Menschen in den teils abgelegenen Dörfern in den Höhenlagen, die neben ihren einsturzgefährdeten oder ganz zerstörten Häusern in einfachen Zelten oder Hütten schlafen. Und die jetzt angstvoll den kalten Winter erwarten.
Lange, viel zu lange, hat der Staat gebraucht und hat bisher weder die entsprechenden bürokratischen Voraussetzungen geschaffen noch die Zahlung der versprochenen 2.000 Dollar pro Haushalt auf den Weg gebracht, um den meist bitterarmen Obdachlosen eine neue, winterfeste Bleibe zu ermöglichen.
Freiwillige helfen mit, und UNICEF unterstützt sie
Aber die Nepalesen helfen sich selbst – und anderen: In Chucchepati hat Ang Dawa Sherpa, der sonst Trekkingtouristen durch die Berge führt, die Koordination der Wasserversorgung und die Instandhaltung der Sanitäranlagen übernommen. Sein eigenes Haus daheim liegt noch in Trümmern, aber der drahtige Mann bleibt hier, im Lager: „Ich habe hier so viele Menschen kennengelernt, die meine Hilfe brauchen. Ich möchte einfach in dieser Situation bei den Leuten bleiben.“
Er packt an, sorgt dafür, dass immer genug mit Chlor behandeltes, sicheres Wasser da ist. Und wenn Kinder oder Jugendliche wie der 16-jährige Tensing Chhetri, der durch das Beben beide Eltern verlor, Hilfe brauchen, teilen Ang Dawa und seine Frau ihr Essen, nehmen sich Zeit, für den Jungen da zu sein.
„Er ist der Held des Lagers, immer zur Stelle, wenn Hilfe gebraucht wird“, sagt Sushil Bikram Shahi, der gemeinsam mit seiner Frau Suman Rani Shahi selbst in diese Kategorie gehört. Sie sind mit ihrer Organisation Noble Compassionate Volunteers, die UNICEF unterstützt, freiwillig in den Obdachlosencamps aktiv. Auch sie helfen mit, die hygienische Situation in den Lagern auf einem Niveau zu halten, das – in all der Not – menschenwürdig ist.
Eine gemauerte Baracke haben sie in eine Gesundheitsstation verwandelt, in der Fieber, Atemwegserkrankungen und andere Krankheiten behandelt werden, aber auch Schwangere und junge Mütter Rat und Unterstützung bekommen.
Keine Katastrophe nach der Katastrophe
So konnten Sushil, Suman und viele weitere mit UNICEF und vielen Partnerorganisationen die Katastrophe nach der Katastrophe verhindern. In den sechs Monaten seit dem Beben hat UNICEF mit seinen Partnern über 530.000 Kinder gegen Masern, Röteln und Polio geimpft, Medikamente gegen Durchfall verteilt und dafür gesorgt, dass 1.360 schwer mangelernährte Kinder lebensrettende Behandlung und Zusatznahrung bekamen.
„Ihr habt die Cholera gestoppt“, bedankt sich Tomoo Hozumi, der japanische Leiter von UNICEF Nepal bei den Freiwilligen. „Als im August die ersten Cholerafälle bekannt wurden, sind sie von Tür zu Tür, von Zelt zu Zelt gelaufen, um die Leute aufzuklären“, sagt Hozumi. Die gerade in der Enge der Lager hochgefährliche Krankheit konnte eingedämmt werden.
Doch die Menschen brauchen nicht nur medizinische Hilfe, sondern menschlichen Beistand. Ekta, die Krankenschwester der kleinen Gesundheitsstation schaut auf die Mütter draußen vor dem Fenster: „Es ist nicht nur Medizin, was die Leute brauchen. Sie sind arm, sie haben nicht genug für das Essen, für die Schule der Kinder, für die Fahrt nach Hause – sie suchen für alles unseren Rat.“
Serie: Die Kinder im Nach-Beben-Land
Lesen Sie alle drei Artikel von Christian Schneiders Reise in das von Erdbeben so schwer getroffene Nepal.
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