© Patryk Jaracz, PolenUkraine: Unter den dunklen Wolken des Krieges
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UNICEF Foto des Jahres 2023

Ein Interview mit dem diesjährigen Gewinner Patryk Jaracz

Der polnische Fotograf Patryk Jaracz dokumentiert den Krieg in der Ukraine seit Anfang 2022. Dabei widmet er sich besonders der Situation der Kinder. Das diesjährige Siegerfoto symbolisiert das Licht kindlicher Widerstandskraft und Freude, das durch die Dunkelheit weltweiter Kriege, Konflikte und Katastrophen bricht. Im Interview spricht Patryk Jaracz über seine persönlichen Erfahrungen und beschreibt in seinen eigenen Worten, was er vor Ort beobachtet hat.


von Niklas Klütsch

Lieber Patryk. Herzlichen Glückwunsch zum Gewinn des UNICEF Foto des Jahres. Was bedeutet Dir diese Auszeichnung? Erzähle uns ein bisschen darüber.

Patryk Jaracz: Beim UNICEF Foto des Jahres 2023 zu gewinnen verdeutlicht den Wert meiner Arbeit. Auch freut mich die Anerkennung für dieses ganz besondere Bild und dass meine Arbeit geschätzt wird, sie die Menschen anspricht und sie emotional berührt. Ich freue mich daher sehr über die Auszeichnung.

Als Fotograf und Dokumentarfilmer bist Du seit Januar 2022 in der Ukraine. Worin lag Deine Motivation, sogar schon vor Ausbruch des Krieges dorthin zu gehen?

Patryk: Hierher zu kommen und die Sprache zu lernen hatte ich schon seit einigen Jahren vor. Der Krieg in der Ukraine begann ja bereits 2014 im Osten des Landes, im Donbass. Darüber wollte ich ursprünglich berichten.

In Kiew bin ich daher schon seit dem 1. Januar 2022. Ich kam also hier an, bevor sich der Krieg zwei Monate später auf die gesamte Ukraine ausweitete. Und dann ging alles so schnell und ich war plötzlich mittendrin. Aufgrund der derzeitigen Entwicklungen in der Hauptstadt Kiew habe ich ab und zu die Möglichkeit, eine Auszeit von der Belastung und dem Stress meiner Arbeit zu nehmen. Danach fahre ich regelmäßig wieder zurück in den Süden oder Osten des Landes. Dort fotografiere ich das aktuelle Geschehen und dokumentiere so den Krieg auf meine ganz eigene Weise.

Portrait: Patryk Jaracz
© Patryk Jaracz

Du bist an der polnischen Ostseeküste geboren und aufgewachsen und hast später Bildende Künste in Posen studiert. Woher stammt Deine Begeisterung für Bilder?


Patryk: Ich denke ich bevorzuge von Natur aus jegliche Form von bildlicher Darstellung. Deswegen habe ich damals auch Bildende Künste studiert. In den Anfangsjahren meiner Laufbahn arbeitete ich erst als Designer und dann als Kreativ-Direktor, zuerst in Polen, später dann in Toronto und London. Mit der Zeit wurde mir jedoch klar, dass ich meinen beruflichen Schwerpunkt ändern wollte.

Was passierte danach? Wie ging es dann weiter?

Patryk: Ich dachte darüber nach, was ich wirklich machen wollte und kam zu dem Schluss, dass ich mich für Menschenrechte einsetzen wollte. Also studierte ich Journalismus und Fotografie und entschied mich letztlich dafür, meinen vorherigen Beruf aufzugeben. Ich bin froh, dass ich das gemacht habe.

Wo fand Dein erstes großes Projekt statt?

Patryk: Für mein erstes großes, internationales Projekt ging ich nach Belarus, um als Fotograf über die Wahlen 2020 zu berichten. Bevor ich dorthin ging, konnte ich mir nur ausmalen, wie schlimm die Menschenrechtslage in Belarus wirklich ist. Was ich dann aber mit eigenen Augen sah war viel schlimmer als alles, was ich erwartet hatte – überall wurde gewaltsam gegen Demonstrantinnen und Demonstranten vorgegangen. Ich erfuhr es auch am eigenen Leib: Während ich die Demonstrationen dokumentierte, wurde auch ich festgenommen und, wie tausende andere, tagelang geschlagen und gefoltert. Die Tatsache, dass man nur über eine einzige Grenze gehen muss und plötzlich sieht, dass Menschen derart grausam behandelt werden, war ein unglaublicher Schock.

Das Siegerfoto zeigt Kinder, die in einem Feld in der Region Riwne spielen, während man im Hintergrund den Rauch eines brennenden Öllagers nach einem russischen Drohnenangriff sieht. Wie ist dieses Bild entstanden?

Patryk: Die Entstehung dieses Fotos zeigt ziemlich gut, wie meine Arbeit aussehen kann, wenn ich keinen klaren Plan verfolge. Ich lebe in der Ukraine. Das Geschehen dort ändert sich zurzeit jeden Tag. Ich reise nicht oft ins Ausland, vielleicht alle sieben Monate einmal. Dieses Mal war ich unterwegs nach Polen für einen kurzen Besuch bei meiner Familie. Aus einer Entfernung von ca. 100 Kilometern, also sehr weit entfernt, sah ich plötzlich Rauch. Ich beschloss, mir das genauer anzusehen. Der Ort des Geschehens in der Region Riwne liegt nicht weit von der polnischen Grenze entfernt. Das zeigt, dass die Angriffe überall stattfinden können und dass man aktuell nirgends im ganzen Land wirklich in Sicherheit ist. Als Erstes fuhr ich dorthin, wo es brannte. Es war ein Öllager. Ich durfte jedoch vor Ort keine Fotos machen. Da ich die Szenerie aber dennoch beeindruckend fand, hielt ich in ein paar Kilometern Entfernung auf dem Land nochmal an, um das Geschehen aus der Ferne zu fotografieren. Es war Zufall, dass dort die drei Mädchen spielten und die beiden Älteren der Jüngsten gerade beibrachten, wie man Fahrrad fährt. Aber genau das gibt dem Bild seine Kraft und seine Vielschichtigkeit.

Auf eine bestimmte Weise stellt das Siegerfoto einen besonders schönen Moment in der Kindheit der drei Mädchen dar.

Patryk Jaracz, Siegerfotograf des "UNICEF Foto des Jahres" 2023
Ukraine: Unter den dunklen Wolken des Krieges

Das UNICEF Foto des Jahres 2023.

© Patryk Jaracz, Polen

Was macht das Bild in Deinen Augen so vielschichtig?

Patryk: Auf eine bestimmte Weise stellt das Siegerfoto einen besonders schönen Moment in der Kindheit der drei Mädchen dar. Aber nur auf eine Weise. Denn der aufsteigende Rauch erinnert uns an das Leid, dem die Kinder in der Ukraine derzeit fast täglich ausgesetzt sind. Ich erinnere mich zum Beispiel noch ganz genau, wie ich Fahrrad fahren gelernt habe. Meine Oma und mein Opa haben es mir beigebracht. Das ist eine dieser wunderbaren Erinnerungen, die ich mir ganz fest bewahre. Die aktuellen Lebensumstände der Kinder in der Ukraine machen es schwer, solch positive Gefühle zu haben.

Was weißt Du über die Kinder auf dem Bild? Hattest Du die Möglichkeit, mit ihnen zu sprechen?

Patryk: Zuerst habe ich den Mädchen nur gewunken, damit sie mich sehen. Um jedoch diese natürliche Situation nicht zu stören, habe ich nicht weiter versucht, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Als ich dann später das Bild veröffentlichte, kommentierte die Mutter eines der Kinder es auf Social Media. Daraufhin habe ich sie umgehend kontaktiert und mit ihr über die Szene und die Mädchen gesprochen. Für sie als Mutter war es sehr schmerzhaft, zu sehen, wie sehr der Krieg die Kindheit ihrer Tochter und die ihrer Freundinnen belastet. Sie sagte, sie habe geweint, als sie das Bild sah. Ihre Worte und Gefühle im Zusammenhang mit dem Bild haben sich bei mir sehr stark eingebrannt. Die Eltern in der Ukraine leiden furchtbar unter der Situation, in der ihre Kinder aufwachsen müssen.

Wie Du berichtest, lag der Schwerpunkt Deiner Arbeit nicht nur auf Menschenrechten, seit Du in der Ukraine bist. Wie würdest Du das Ziel Deiner Arbeit beschreiben?

Patryk: Ich bin überzeugt, dass wir ganz dringend die Aufmerksamkeit auf diese Notlage lenken und sie detailliert schildern müssen. Wenn nämlich niemand weiß und versteht, was dort wirklich geschieht, ist es viel unwahrscheinlicher, dass sich die Dinge zum Besseren wenden. Auf die Situation aufmerksam zu machen ist natürlich nur eine Möglichkeit, Änderungen zu bewirken. Der Weg hin zu echten Veränderungen ist um ein Vielfaches komplizierter, aber meiner Meinung nach dennoch möglich. In der Ukraine möchte ich mit meiner Arbeit dazu beitragen, Ungerechtigkeiten und Menschenrechtsverletzungen sichtbar zu machen, aber auch diese Zeiten des Krieges genau zu dokumentieren. Menschliche Widerstandskraft sowie Altruismus und Mut sind in diesem Krieg nämlich auch allgegenwärtig. Und ich möchte das ganze Bild zeigen.

Dank des Mutes und der Selbstlosigkeit der Menschen hier ist nicht alles so düster, wie es aussieht.

Patryk Jaracz, Siegerfotograf des "UNICEF Foto des Jahres" 2023

In Deiner Reportage „Kindheit im Krieg“ sieht man, wie nah Du am täglichen Leben der Menschen vor Ort bist. Viele davon sind vom Krieg gezeichnet. Wie nimmst Du die Menschen in der Ukraine seit Kriegsbeginn wahr?

Patryk: Die Menschen in der Ukraine waren seit Ausbruch des Krieges füreinander da und machen sich gegenseitig Mut. Das gibt mir jeden Tag Kraft. Ich habe von Anfang an mit zahlreichen Freiwilligen gearbeitet, die z. B. in Gebiete fahren, die gerade angegriffen werden. Sie riskieren ihre eigene Sicherheit, um anderen zu helfen. Dank des Mutes und der Selbstlosigkeit der Menschen hier ist nicht alles so düster, wie es aussieht. Das schafft eine gewisse Leichtigkeit und Hoffnung in der gegenwärtigen Situation. Wo auch immer etwas Schlimmes im Land passiert, gibt es Menschen, die dorthin gehen und versuchen, anderen zu helfen. Das habe ich jetzt schon ganz oft beobachtet.

Wie nimmst Du die Sorgen und die psychische Belastung der Kinder wahr?

Patryk: Die Situation ist schwer zu ertragen, da die Kinder in der Ukraine, so wie ich das wahrnehme, unterschiedlichen Bedrohungen ausgesetzt sind und darunter furchtbar leiden. Die anhaltenden Angriffe im ganzen Land führen zu ständigen Belastungen, Verletzungen und Tod. Diejenigen, die ihr Zuhause verlassen und sich in Sicherheit bringen konnten, mussten das oft Hals über Kopf tun. Durch Nachforschungen der UN wurden darüber hinaus Fälle dokumentiert, in denen ukrainische Kinder Opfer von sexueller Gewalt, Folter und Entführungen durch russische Truppen wurden. Jeden Tag gehen Kinder in der Ukraine zu Beerdigungen ihrer Väter und Mütter, die für ihr Land gekämpft haben. Sie müssen jetzt schon seit zwei Jahren immer wieder solche traumatischen Erfahrungen machen. In vielerlei Hinsicht hat dieser Krieg sie einer Zeit in ihrem Leben beraubt, die voller Freude hätte sein sollen.


Nicht nur in der Ukraine, sondern überall auf der Welt sehen sich die Menschen extremen Herausforderungen in Form von Kriegen, Krisen und Katastrophen gegenüber. Vielen dieser Menschen ist dabei eines gemeinsam: sie schaffen es, eine Form des Alltags aufrecht zu erhalten und sich gegenseitig zu unterstützen. Woher nehmen sie Deiner Meinung nach die Kraft dafür?

Patryk: Ich denke, es liegt in der menschlichen Natur, dass wir uns sogar schlimmstmöglichen Umständen anpassen und die Kraft finden können, den Schmerz zu überwinden und einfach weiterzumachen. Vieles davon sehe ich in der Ukraine, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass den Menschen eine solche Widerstandskraft nicht abverlangt werden sollte. Ganz besonders nicht den Kindern.

Das Interview führte Niklas Klütsch.

2. Platz Foto des Jahres: Afghanistan: In den Löchern von Chinarak
Bild 1 von 2 © Oliver Weiken, Deutschland (Deutsche Presse-Agentur), 2. Platz Foto des Jahres 2023
3. Platz Foto des Jahres: Russland: Die Kinder aus dem großen kalten Wald
Bild 2 von 2 © Natalya Saprunova, Russland/Frankreich (Agentur Zeppelin), 3. Platz Foto des Jahres 2023
Info

Mit dem internationalen Wettbewerb „UNICEF Foto des Jahres“ zeichnet UNICEF Deutschland Bilder und Reportagen professioneller Fotojournalist*innen aus, die die Persönlichkeit und die Lebensumstände von Kindern auf herausragende Weise dokumentieren.

Voraussetzung für die Teilnahme ist die Nominierung durch eine*n international renommierte*n Fotografie-Expert*in.

Mehr Infos und eine Übersicht aller ausgezeichneten Fotoreportagen auf www.unicef.de/foto.

Niklas Klütsch
Autor*in Niklas Klütsch

Niklas Klütsch ist Pressereferent bei UNICEF und bloggt über die UNICEF-Arbeit in Deutschland und weltweit.