"Die Kinder sind die wahren Opfer"
Das diesjährige UNICEF-Foto des Jahres stammt von dem zweifachen Pulitzer-Preisträger Muhammed Muheisen. Wir haben ihn interviewt.
Zahra, das damals erst fünfjährige syrische Mädchen auf dem Siegerbild, lebt gemeinsam mit ihren Eltern in einem Flüchtlingslager in Jordanien. Muheisen dokumentiert seit über einem Jahrzehnt Geschichten von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen überall auf der Welt. Zahra und ihre Familie traf er 2016, als er gerade an einer Fotoreportage zum sechsten Kriegsjahr in Syrien arbeitete.
„Für mich war es wichtig, den Fokus auf die Verletzlichsten, die Kinder zu legen und ihre Geschichten der Welt zu zeigen“, erklärte der Preisträger im Rahmen der offiziellen Preisverleihung in Berlin.
Ich habe Muhammed Muheisen kurz vor Weihnachten getroffen und ihm Fragen zu seiner Arbeit und zu Zahra gestellt. Hier das Interview mit dem diesjährigen Preisträger des internationalen Foto-Wettbewerbs:
Lieber Muhammed, noch einmal herzlichen Glückwunsch zu diesem tollen Foto und Gratulation zur Auszeichnung! Du bist seit vielen Jahren Fotojournalist – was bedeutet für dich die Reportagen-Fotografie?
Zuerst einmal, Fotografie ist meine Leidenschaft, Journalismus ist mein Beruf – beides zusammen macht mich zu einem Fotojournalisten, dem bewusst ist, was überall auf der Welt passiert. Es gibt so viele Geschichten, die noch nicht erzählt wurden, und ich sehe mich als Fotojournalist in der Verantwortung, genau diese Geschichten aufzudecken. Denn ich glaube, wenn etwas nicht festgehalten und dokumentiert wird, ist es einfach so, als würde es nicht existieren, als würde es etwas nicht geben. Durch meine Fotografie schaffe ich Bewusstsein und gebe Menschen eine Stimme, die durch meine Fotos gehört und verbreitet werden kann.
Wie bist du zur Fotografie gekommen?
Es hat alles angefangen, als ich noch ein kleines Kind war. Um genau zu sein, als ich den Polaroid-Fotoapparat meiner Großmutter gesehen habe. Dieses kleine Gerät, in das du hineinschaust, einen Knopf drückst und dieser exakte Moment auf Papier festgehalten wird. Du kannst so Augenblicke für immer behalten und nachfolgenden Generationen zeigen. In diesem Moment war mir klar, dass Fotografie meine Leidenschaft ist. Deshalb habe ich mich auch dazu entschieden, Journalismus zu studieren, um diese beiden Facetten zu vereinen: meine Leidenschaft und meinen Beruf. Ich sehe mich als Geschichtenerzähler, der nach wichtigen Geschichten überall auf der Welt recherchiert, um sie zu erzählen und zu verbreiten.
Was war die prägendste Fotoreportage, die du gemacht hast?
Um ehrlich zu sein, schätze ich jedes meiner Bilder, das ich fotografiert habe. Es geht nicht um mich, sondern um die Menschen, die ich fotografiere. Hinter jedem Bild steckt eine wichtige Geschichte, die einen besonderen Wert für mich hat und die ich im Herzen trage. Menschen vertrauen mir, erlauben mir, sie zu porträtieren – das Mindeste, was ich tun kann, ist sicherzustellen, dass ihre Stimme gehört und ihre Geschichte in die Welt getragen wird.
Was ist die Geschichte von Zahra – dem syrischen Mädchen auf deinem Gewinnerbild?
Ich traf Zahra und ihre Familie zum ersten Mal im August 2015 in einem provisorischen Flüchtlingslager in Jordanien. Wenige Monate zuvor waren sie aus ihrer Heimat in Syrien geflohen. Ich war in der Region unterwegs, um das alltägliche Leben von syrischen Flüchtlingen zu dokumentieren. Ich bin also immer wieder durch das Flüchtlingslager gelaufen und habe versucht, einen Eindruck von dem Alltag dort zu bekommen, von den Schwierigkeiten und den Umständen, denen die Familien dort gegenüberstehen.
Um diese Einblicke zu bekommen, musst du viel Zeit dort verbringen, Teil der Gegend werden, nahezu unsichtbar werden. Denn nur so können dir die Menschen, die du triffst, vertrauen. An einem Tag sah ich ein stilles und hübsches Mädchen. Ich sprach sie und ihre Familie an und fotografierte sie. Wie immer blieb ich in Kontakt mit der Familie und kehrte 2016 zurück, um sie erneut zu treffen und zu fotografieren. Das war der Moment, in dem das Siegerbild von Zahra entstand. Kürzlich erst habe ich Zahra und ihre Familie im Jordantal besucht, und ich halte auch weiterhin den Kontakt. Es ist für mich normal, mit den Leuten in Kontakt zu bleiben, die ich treffe und fotografiere.
Wie geht es Zahra und ihrer Familie? Leben Sie noch immer in dem Flüchtlingslager in Jordanien?
Momentan kann Zahras Vater Hassan auf einer nah gelegenen Farm arbeiten. Es war Anfang November dieses Jahres, als ich sie alle zuletzt besuchte. Leider hat sich seit meinem ersten Treffen im Jahr 2015 nicht viel für die Familie verändert. Noch immer können Zahra und ihre Geschwister nicht zur Schule gehen, da sich ihre Eltern dies finanziell nicht leisten können. Noch immer leben sie alle in einem einfachen Zelt. Zahras Mutter sagte zu mir: „Wir sind verzweifelt, hoffnungslos und kraftlos, und all unsere Träume bleiben einfach nur Träume.“
Dein Verhältnis zu Zahra scheint ein sehr inniges, freundschaftliches zu sein. Legst du bei deiner Arbeit grundsätzlich besonderen Wert darauf, Kinder zu porträtieren?
Ich fokussiere mich bei meiner Fotografie immer auf die Kinder. Ich glaube, dass sie die wahren Opfer all der Konflikte dieser Welt sind. Sie können sich nicht aussuchen, wo sie geboren werden oder unter welchen Umständen sie aufwachsen. Dabei haben sie alle eigentlich eins gemein: Sie sollten ausschließlich Freude, Liebe und Glück in ihrer Kindheit erleben. Für mich ist es nicht nur das Bild eines Kindes. Es ist eine Botschaft von einem Kind aus diesem Teil der Welt an ein Kind in dem anderen Teil der Welt!
Im Kurz-Video erzählt Muhammed Muheisen von seiner Begegnung mit Zahra: