© UNICEF/UNI267579/EtgesInterview im Bereich Familiennachzug
Gut zu wissen

Familiennachzug: „Die Kinder sehnen sich nach ihren Geschwistern und Eltern“

Wenn Kinder allein aus ihrer Heimat fliehen oder Familienmitglieder auf der Flucht getrennt werden, ermöglicht der Familiennachzug in Deutschland die Wiedervereinigung von Familien. Jedoch sind die Hürden hoch und die Prozesse langwierig. Erfahren Sie hier, was das für Kinder bedeutet.

Wir haben mit Maria Kalin, Fachanwältin für Migrationsrecht und Mitglied im Expertenforum Asyl und Migration des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, darüber gesprochen, was das für die Kinder bedeutet.

Jedes Kind hat das Recht mit seinen Eltern zusammenzuleben – das garantiert die UN-Kinderrechtskonvention. Dies gilt auch für geflüchtete Kinder, die von Familienmitgliedern getrennt wurden. Für sie gibt es im deutschen Recht gesetzliche Regelungen zum Familiennachzug.

Welche Hürden bestehen in der Praxis?

Maria Kalin: Zunächst einmal: Ein Antrag für Familiennachzug wird von den Eltern – oder einem Elternteil – bei einer deutschen Auslandsvertretung gestellt. Die Familienmitglieder, die nachkommen sollen, müssen dort einen Termin vereinbaren und dort ein Verfahren durchlaufen.

Es gibt generelle Probleme beim Familiennachzug, die alle Altersgruppen betreffen. Dazu gehört vor allem die sehr lange Trennungszeit, da die Wartezeiten bei den Botschaften sehr lang sind, oder die Probleme, wenn den Betroffenen bestimmte Dokumente fehlen. Kinder trifft dies besonders hart.

In einem Fall, den ich betreut habe, ist ein syrischer Junge als Baby auf der Flucht von seinen Eltern getrennt worden und wuchs anschließend in einem irakischen Flüchtlingslager bei seinen Großeltern auf. Seine Eltern und jüngeren Geschwister haben es nach Deutschland geschafft und versuchen seit Jahren, ihn nachzuholen. Als sie ihn einmal im Flüchtlingslager besuchen konnten, fragte er seine Eltern, ob sie ihn denn gar nicht richtig lieben, da er im Gegenteil zu seinen Geschwistern nicht in Deutschland leben darf, wo es alles gibt und wo seine Familie wohnt. Er kann nicht verstehen, warum seine Eltern ihn nicht aus dem Lager holen können, in dem alles überschwemmt wird und wo er hungern muss.

Außerdem gibt es beim Familiennachzug Probleme, die unbegleitete Kinder betreffen. Denn wenn sich ihre Eltern in anderen Ländern aufhalten, nicht greifbar oder vermisst sind, brauchen die Kinder für Botschaftstermine bevollmächtigte Begleitpersonen. Eine solche Vertretung kann aber nicht oder nur sehr schwer organisiert werden, wenn die Eltern Vollmachten nicht unterzeichnen können. Zudem akzeptieren Botschaften eine Bevollmächtigung häufig nur dann, wenn sie von beiden Elternteilen unterschrieben ist. Ansonsten muss diese Situation der Botschaft seitenweise dargelegt werden.

Die drei Kinder einer syrischen Familie spielen vor ihrem Zuhause.

Die drei Kinder der syrischen Familie Raslan beim Spielen vor ihrem neuen Zuhause.

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Welche Auswirkungen haben Voraussetzungen wie Sprachkenntnisse auf die Chancen der Kinder in den Verfahren?

Maria Kalin: Wenn Kinder über 16 Jahre zu ihren Eltern nach Deutschland nachziehen wollen, müssen sie die deutsche Sprache beherrschen oder es muss gewährleistet erscheinen, dass sich das Kind auf Grund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in Deutschland gut einfügen kann. Kinder mit Fluchtgeschichte können diese Voraussetzung eigentlich nie erfüllen.

Ich habe Fälle betreut, bei denen die Eltern schon einen Platz an der Berufsschule sowie weitere Unterstützungsangebote in Deutschland für ihre Kinder organisiert hatten. So hätten die Kinder hier schnell Deutsch gelernt. Aber dafür müssten sie erst einmal hier sein.

Dabei soll doch das Kindeswohl der UN-Kinderrechtskonvention zufolge bei allen staatlichen Maßnahmen vorrangig berücksichtigt werden…

Maria Kalin: Insgesamt kann man vor dem Hintergrund der geschilderten Problemstellungen sagen, dass das Kindeswohl beim Familiennachzug nicht beachtet wird. Ich argumentiere oft mit der UN-Kinderrechtskonvention. Dann wird teilweise behauptet, diese sei nur bei unbegleiteten Kindern anwendbar. Dies ist aber falsch, denn Kind ist Kind. Die Kinderrechte gelten für alle Kinder, mit oder ohne Eltern. Jedes Kind muss individuell betrachtet werden. Auch wenn ein Kind mit seinen Eltern flüchtet, ist im Verfahren nicht nur auf das Interesse der Eltern, sondern auch auf das Wohl des Kindes zu achten.

Aber selbst bei unbegleiteten Kindern hat die UN-Kinderrechtskonvention kaum praktische Relevanz. Es ist zum Beispiel sehr schwierig, für Kinder frühere Termine zu bekommen, obwohl sie vorrangig zu berücksichtigen wären. Es wird gar nicht gesehen, dass wirklich Kinderrechte betroffen sind. Das ist ein massives Problem.

Die Geschwister eines Kindes sind ein zentraler Teil seiner Familie. Der UN-Kinderrechteausschuss bezieht Geschwister bei der Definition des Familienbegriffs ausdrücklich mit ein. Werden die Kinderrechte in den Verfahren zum Nachzug von Geschwistern berücksichtigt?

Maria Kalin: Leider werden auch hier die Kinderrechte ignoriert. Auch Geschwisterkinder sind Kinder, aber ihre Rechte werden in den Verfahren gar nicht berücksichtigt. Das verstehe ich überhaupt nicht. Als ratifizierter völkerrechtlicher Vertrag gilt die UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland verbindlich. Dagegen wird sie häufig nur wie eine unverbindliche Leitlinie behandelt. Zudem galt die UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland lange nicht für geflüchtete Kinder, was sich inzwischen geändert hat. Aber das ist noch immer nicht ganz in der Rechtspraxis angekommen.

Interview im Bereich Familiennachzug
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Wo sehen Sie die zentralen Probleme beim Nachzug von Geschwistern?

Maria Kalin: Im deutschen Migrations- und Aufenthaltsrecht gehören bei Minderjährigen nur die Eltern zur Kernfamilie, welche besondere Privilegien genießt. Die Geschwister werden zu den sonstigen Familienangehörigen gezählt, wie etwa auch eine entfernte Tante. Deshalb umfasst das Recht auf Familiennachzug eines Minderjährigen nur dessen Eltern, nicht seine Geschwister. Vor dem Hintergrund der Lebensrealität von Kindern ist dies nicht verständlich. Für sie zählen ihre Geschwister natürlich auch zur Kernfamilie. Das ist auch eigentlich allen klar.

Welche Gründe gibt es, dass Geschwister nicht zur Kernfamilie gezählt werden?

Maria Kalin: Gegen einen Geschwisternachzug wird behauptet, man wolle die Systeme entlasten und verhindern, dass zu viele Menschen hierherkommen. Dieses Argument ist aber nicht tragfähig. Alle wissen, dass Geschwister auch ohne den geregelten Geschwisternachzug später über den Kaskadennachzug zu ihren Familien nach Deutschland kommen. Dabei zieht zuerst ein Elternteil nach, um nach Schutzzuerkennung die restlichen Familienmitglieder nachziehen zu lassen. Auch schicken Eltern ihre minderjährigen Kinder nicht bewusst mit dem Ziel auf die Flucht, später zu diesen nachzuziehen. Häufiger kann nur einem Kind eine Flucht ermöglicht werden.

Wird den Geschwistern kein Nachzug gewährt, stellt man die Eltern vor eine unmögliche Wahl. Man kann sich nicht vorstellen, wie es für die Eltern sein muss, sich zwischen den eigenen Kindern entscheiden zu müssen. Die Kinder spüren diese Zerrissenheit. Es setzt die Familien sehr unter Druck. Es erzeugt auch große Ängste. Denn auch wenn rechtlich gesehen die Möglichkeit besteht, die zurückgebliebenen Angehörigen in der Heimat zu besuchen, ist ungewiss, ob die finanziellen Mittel für einen Besuch reichen oder ob nicht in der Zwischenzeit eine Bombe gefallen ist und die Angehörigen sich nie wiedersehen. Es ist unmenschlich, was da verlangt wird und wie damit umgegangen wird.

Maria Kalin; Kanzlei am Ulmer Münster
© Maria Kalin; Kanzlei am Ulmer Münster

Können Sie uns ein konkretes Beispiel nennen?

Maria Kalin: In einem Fall aus meiner Praxis lebte eine alleinerziehende Mutter von vier Kindern mit drei ihrer Kinder in einem somalischen Flüchtlingslager. Das vierte Kind hielt sich in Deutschland auf. Ihr wurde gesagt, dass sie die drei Kinder zurücklassen könne, um zu dem anderen Kind nach Deutschland zu gelangen. Das geht an jedem Verständnis von Lebensrealität vorbei. Wie sollen drei Kinder ein Nachzugsverfahren weiterführen? Dem Auswärtigen Amt war zwar klar, dass die Geschwister auch irgendwie nachkommen sollten, aber praktisch wird das kaum funktionieren, sobald die Mutter einmal in Deutschland ist. Es ist klar, dass die Geschwister irgendwann nachkommen werden, aber warum können sie dann nicht gleich mit der Mutter nach Deutschland kommen?

Was bedeuten diese Probleme für das Leben der Kinder?

Maria Kalin: Diese Praxis macht die Kinder kaputt. Denn natürlich sehnen sie sich nach ihren Geschwistern und Eltern. Sie fühlen sich für die Trennung und die langen Wartezeiten verantwortlich und machen sich Druck. Teilweise denken sie an nichts anderes, als ihre Familie hierher zu bringen. Und so funktioniert ihre Integration auch erst gut, wenn die Familie beisammen ist.

Wie kann die aktuelle Situation im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention verbessert werden?

Maria Kalin: Die Wartezeiten müssen reduziert werden, die Verfahren müssen einfacher, transparenter und schneller gehen. Damit wäre allen geholfen. Das ist aber keine gesetzgeberische Entscheidung, sondern eine administrative. Für die Bearbeitung der Anträge im Familiennachzugsverfahren bräuchte es mehr Stellen und Personal im In- und Ausland.

Hinsichtlich der Gesetzgebung wäre es schon ein großer Schritt in die richtige Richtung, wenn der Koalitionsvertrag umgesetzt würde. Wenn also Sprachvoraussetzungen vereinfacht, die Sonderregelung für subsidiär Geschützte wegfallen und der Geschwisternachzug geregelt würden. Geschwister Minderjähriger müssen als Angehörige der Kernfamilie anerkannt werden.

Für unbegleitete Kinder wäre außerdem ein Verfahrensbeistand wichtig. Zwar bekommen sie einen Vormund, aber eigentlich brauchen sie, wenn sie alleine das Verfahren stemmen sollen, einen rechtserfahrenen Beistand, der mit den Kindern zu ihren Terminen geht, sensibilisiert ist und die Kinder dabei unterstützt, zu ihren Rechten zu kommen. Ohne einen solchen Beistand ist der Zugang zum Recht für Kinder sehr eingeschränkt. Ich sehe oft, dass Kinder keine anwaltliche Hilfe holen, wenn sie dabei nicht die Hilfe von Bekannten oder Verwandten haben. Dafür wäre ein Beistand sehr wichtig.

Liebe Frau Kalin, vielen Dank für das Interview.

InfoFamiliennachzug: Gutachten von Frau Kalin vor dem Innenausschuss


Finden Sie hier die Stellungnahme von Maria Kalin, Fachanwältin für Migrationsrecht, Mitglied des Ausschusses Migrationsrecht des Deutschen Anwaltvereins.

Gutachten von Frau Kalin vor dem Innenausschuss

Desireé Weber (UNICEF/UNI277453/Weiss)

Desireé WeberFlucht und Migration

desiree.weber@unicef.de

Desirée Weber ist Senior Advocacy Specialist für Flucht und Migration bei UNICEF Deutschland

Zoé Zloch

Zoé ZlochFlucht und Migration

zoe.zloch@unicef.de

Zoé Zloch ist studentische Mitarbeiterin im Bereich Flucht und Migration bei UNICEF Deutschland