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Meinung

Geflüchtete Kinder: Ihre Chancen sind unsere Chance

Beitrag anlässlich des Flüchtlingsgipfels am 6. November


von Christian Schneider

Dieser Text ist am 3.11.2023 zuerst als Gastbeitrag in der Rubrik "Fremde Federn" in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen.

Die Fragen zu Flucht und Migration geraten in diesem Herbst, getrieben durch die jüngsten Wahlergebnisse in einigen Bundesländern, zwischen die Mühlsteine quer durch die Parteienlandschaft. Oft fehlt es an Klarheit, was und wer gemeint ist, wenn von „Migrationsproblematik“ die Rede ist. Asylsuchende sollen weniger, Abschiebungen mehr und rascher werden, Kommunen (zu Recht) entlastet. Nun steht ein weiterer Flüchtlingsgipfel beim Bundeskanzler an. Es wird wieder um die Aufgaben gerungen, und um Geld.

Vor dem Gipfel hier ein Einwurf, der für eine Gruppe Partei ergreift, die aus Sicht von UNICEF Deutschland zu sehr ausgeblendet wird: Kinder! Jungen und Mädchen, die überwiegend aus krisengeplagten Ländern kommen und die nach oft gefährlicher Flucht, die kein Kind erleben sollte, berechtigten Anspruch auf Schutz haben. In Deutschland sind rund 40 Prozent der gut zwei Millionen Asylsuchenden seit 2015 und 32 Prozent der Schutzsuchenden aus der Ukraine Kinder. 2022 kam ein Drittel aller Asylsuchenden aus Syrien, es folgten Afghanistan (17,7 %) und der Irak (8,8 %). Insgesamt lag die Zahl asylsuchender Kinder bei etwa 80.000, hinzu kamen 430.000 aus der Ukraine. So verjüngt sich das diffuse Bild von Asyl und Migration deutlich.

Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage geht hervor, dass in 2022 die sogenannte „bereinigte Schutzquote“ – der Anteil aller Asylanträge, die tatsächlich in Deutschland inhaltlich geprüft wurden – bei 72,3 Prozent lag. Die Menschen hinter diesen Anträgen haben also den berechtigten Anspruch auf Schutz. Wir haben es demnach jährlich mit Zigtausenden, insgesamt aber über die Jahre hinweg mit Hunderttausenden Kindern zu tun, die gute Aussichten, nein: das Recht haben, in Deutschland zu bleiben und wie alle anderen Kinder an der Gesellschaft teilzuhaben.

Liegt darin nicht eine große Chance? Es ist doch eine vielversprechende Aussicht, dass wir angesichts demografischer Herausforderungen und Arbeitskräftemangel eine große Gruppe junger Menschen schon im Land haben, die bei entsprechendem Angebot und Förderung helfen kann, unsere Gesellschaft wieder auf Zukunft zu stellen.

Leidet unser gesellschaftliches Klima wirklich so sehr unter der reinen Zahl der ankommenden Menschen? Oder liegen die Spannungen, die wir in Deutschland zunehmend beobachten, eher in dem Versäumnis begründet, in die grundlegenden sozialen Strukturen zu investieren, die alle Familien brauchen? Wir brauchen, und das nicht erst seit gestern und nicht nur für neu ankommende Familien, Investitionen in Bildung für alle Kinder wie auch in bezahlbare Wohnungen.

Der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland hat gezeigt, dass Deutschland im europäischen Vergleich bei Ausgaben für Grundschulbildung hinten liegt. Deutschland investierte 2019 nur 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und damit 1,2 Prozentpunkte weniger als Spitzenreiter Schweden, nur Rumänien investierte weniger. Dabei sind die Grundschulen entscheidend, damit nicht am Ende wie zuletzt jährlich fast 47.000 Jugendliche ohne Abschluss und ohne gute Perspektiven in das Leben entlassen werden. Hier entsteht Frustration, das Gefühl, abgehängt zu sein. Hier werden wir der Verantwortung für die junge Generation nicht gerecht und verschwenden ein unglaubliches Potenzial.

Deutschland: Klassenzimmer in einer Unterkunft für Geflüchtete.

Provisorisches Klassenzimmer in einer Container-Unterkunft für geflüchtete Menschen.

© UNICEF/UNI463065/Charbonneau

Über 90 Prozent der Kinder, die in den letzten drei Jahren ihren Asylerstantrag gestellt haben, sind unter 15. Wie kurzsichtig ist es, wenn wir Tausenden geflüchteten Kindern, von denen viele mit hoher Wahrscheinlichkeit bleiben dürfen, die Chance vorenthalten, so schnell und gut wie möglich zu lernen, Zugang zu Beratung und Integrationsangeboten zu haben, auch zu voller gesundheitlicher Versorgung.

Ohne Zweifel sind viele Kommunen an oder schon jenseits ihrer Belastungsgrenze. Gleichzeitig stellen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Verwaltungen sowie eine enorme Zahl Freiwilliger jede Woche neu den Herausforderungen. Aber: Die Aufgabe wird bleiben, in großem Umfang. Das einzige, das helfen würde, Menschen von der Flucht abzuhalten, wäre Sicherheit in der Heimat – in Ländern wie Ukraine, Syrien oder Afghanistan. Weil die Weltlage aber ist, wie sie ist, sollte niemand eindeutige, schnelle Lösungen versprechen.

Auf der Hand liegt, wie wertvoll es ist, den Blick auf die zu uns geflüchteten Kinder zu verändern und statt nur über Härte mehr über konkrete Hilfe für Kinder zu sprechen. Aus vielen Begegnungen bin ich zutiefst beeindruckt, wie diese jungen Menschen bei allem, was sie durchgemacht haben, an einer besseren Zukunft festhalten. Sehr viele bewahren ihren Mut, sind hoch motiviert, zu lernen und sich einzubringen. Können wir uns etwas Besseres wünschen, für die Kinder und für unsere Gesellschaft?



Afghanistan: UNICEF-Geschäftsführer mit Schülerinnen in einem Learning Center | © UNICEF
Autor*in Christian Schneider

Christian Schneider ist Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen Komitees für UNICEF, ein Schwerpunkt der Arbeit ist seit Jahren die Situation von Kindern in Krisenregionen. Er hat Ethnologie, Politikwissenschaften und Publizistik studiert und war vor der Zeit bei UNICEF als Journalist für verschiedene Tageszeitungen tätig.