Unter Quarantäne: spielen, essen, schlafen in einem einzigen Zimmer
Die Covid-19-Pandemie hat unser Leben grundlegend verändert. Die vergangenen Monate waren für uns alle – vor allem für Familien und ältere Menschen – eine große Herausforderung.
Wie haben Menschen diese Zeit erlebt, die mit ihren Kindern in Flüchtlingsunterkünften leben? Was heißt es für sie, wenn plötzlich die gesamte Einrichtung unter Quarantäne steht und die Welt auf 20 Quadratmeter zusammenschrumpft?
Zwei Monate lang rund um die Uhr: spielen, essen, schlafen in einem einzigen Zimmer. Dazu die Angst vor der Krankheit und die Ungewissheit, wie es nun weitergeht – mit dem Asylantrag und dem neuen Leben in Deutschland.
Ich möchte Ihnen heute die Geschichten von drei geflüchteten Familien erzählen, die meine Kollegin Dr. Ceren Güven-Güres und ich zusammen mit der Fotografin Annette Etges in Ellwangen getroffen haben. Am Rande der kleinen Stadt in der Nähe von Stuttgart leben sie gemeinsam mit ihren Kindern in einer der größten Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete Baden-Württembergs.
Flüchtlingsunterkünfte als Hotspots
Eine Untersuchung der Universität Bielefeld hat im vergangenen Monat ergeben, dass das Risiko, sich mit dem Coronavirus zu infizieren, in Flüchtlingsunterkünften besonders hoch ist. Durch das Zusammenleben vieler Menschen auf engstem Raum und der gemeinschaftlichen Nutzung von Küchen und Bädern ist es für die Bewohnerinnen und Bewohner vor allem in den großen Sammelunterkünften kaum möglich, die nötigen Abstands- und Hygieneregeln einzuhalten – und so steigen die Infektionszahlen in Flüchtlingsunterkünften bundesweit.
Auch die Landeserstaufnahmeeinrichtung Ellwangen war stark von der Corona-Pandemie betroffen. Als wir die Unterkunft besuchen, leben hier etwa 240 geflüchtete Menschen – unter ihnen 60 Kinder und 40 Frauen. Im März waren es jedoch noch mehr als doppelt so viele Bewohnerinnen und Bewohner (600 Personen), von denen ca. 380 Personen positiv auf das Virus getestet wurden – ebenso wie eine große Zahl der Beschäftigten. Schwerere Krankheitsverläufe gab es glücklicherweise kaum.
Ein radikaler Einschnitt im Leben der geflüchteten Menschen
Ich frage Berthold Weiß, der seit April 2015 die Unterkunft leitet, wie er die vergangenen Monate erlebt hat.
Bei einem Gang über das Gelände der ehemaligen Reinhardt-Kaserne erzählt uns der 57-Jährige: „Wir befanden uns plötzlich in einer noch nie dagewesenen Situation und standen vor dem Problem, dass wir eine Vielzahl zusätzlicher Aufgaben bewältigen mussten, gleichzeitig aber krankheitsbedingt weniger Personal hatten. Aus diesem Grund haben wir die Bundeswehr zur Unterstützung angefordert.“
Er zeigt uns einige der letzten Zelte, die die Bundeswehr auf dem Gelände errichtet hatte, um neben einer weiteren zivilen Hilfsorganisation beispielsweise beim täglichen Fiebermessen der Bewohnerinnen und Bewohner zu helfen.
Ich möchte von Berthold Weiß wissen, wie die Corona-Pandemie das Leben der Menschen und vor allem der Kinder in der Einrichtung verändert hat. Er sagt:
Um die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern, ordnete die Stadt Ellwangen eine insgesamt fünfwöchige Kontakt- und Ausgangssperre für alle Bewohnerinnen und Bewohner der Unterkunft an. Im Anschluss wurden nur noch positiv Getestete und Kontaktpersonen separat untergebracht.
„Zu der Quarantäne, unter der die ganze Unterkunft stand, kamen für die Menschen hier erschwerend die Unsicherheit und die Angst vor der neuen, unbekannten Krankheit sowie der Wegfall jeglicher Tagesstruktur hinzu,“ erklärt Berthold Weiß. „Sprach- und Erstorientierungskurse oder Sport konnten nicht mehr angeboten werden. Wir mussten sehr früh den Betrieb der Kinderbetreuung einstellen und auch der Besuch der Schulen im Ort war für die Kinder nicht mehr möglich. Das Essen haben wir in Lunchpaketen ausgegeben, weil wir auch die Kantine schließen mussten.“
Kindheit in der Corona-Pandemie
Möchten Sie mehr über die Folgen der Pandemie für Kinder weltweit erfahren und darüber, wie UNICEF hilft? Hier finden Sie immer die aktuellsten Corona Infos im UNICEF Blog.
Unterstützung in einer schwierigen Zeit
Um den Alltag der Kinder während der Quarantäne zu gestalten, wurden in der Erstaufnahmeeinrichtung zwar einige Angebote für Kinder entwickelt, dennoch war ihm und seinem Team insgesamt aufgrund der großen Herausforderungen zu wenig möglich, stellt Berthold Weiß fest.
„Eine große Unterstützung war die von UNICEF Deutschland vermittelte Spendenaktion von IKEA, von der in der Erstaufnahmeeinrichtung alle Kinder profitiert haben,“ sagt Berthold Weiß.
IKEA Deutschland, langjähriger Unternehmenspartner von UNICEF Deutschland, hatte im Mai Spielzeuge an acht Flüchtlingsunterkünfte in Baden-Württemberg gespendet. Dennis Balslev, CEO und Chief Sustainability Officer von IKEA Deutschland, erklärt, warum es IKEA so wichtig war, in der aktuellen Krise zu helfen:
„IKEA ist ein humanistisches, werteorientiertes Unternehmen. Wir wollten unserer Verantwortung als großer Einzelhändler gerecht werden und mit unserem Soforthilfeprogramm ‚Wir packen das gemeinsam‘ besonders schutzbedürftige Menschen unterstützen. Konkret heißt das: Für alle, die gerade kein richtiges Zuhause haben, sondern in Not- und Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind, packt IKEA kleinere und größere Spendenpakete. Rund 50.000 Produkte gingen bislang an 470 lokale Einrichtungen, darunter auch Einrichtungen für geflüchtete Familien. Wir freuen uns sehr, dass wir dazu beitragen können, den Alltag für geflüchtete Kinder ein bisschen besser zu machen.“
Maßnahmen zum Schutz der Bewohnerinnen und Bewohner
Berthold Weiß erzählt uns, dass die Bewohnerinnen und Bewohner der Unterkunft schon im Februar über Covid-19 und die nötigen Hygiene- und Abstandregeln informiert wurden. Er räumt jedoch ein, dass die Information der Asylsuchenden aufgrund der großen Überlastung nicht im notwendigen Umfang erfolgen konnte.
Um die geflüchteten Menschen vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus zu schützen, wurden in der Unterkunft kostenfrei Hygieneartikel ausgegeben. Ab März wurden alle neuankommenden Geflüchteten separat untergebracht. Alle Bewohnerinnen und Bewohner wurden mehrmals auf das Coronavirus getestet – auch Ajan und seine Frau Ravza, die wir mit ihren vier Kindern in Ellwangen getroffen haben. Ihre Namen haben wir zu ihrem Schutz geändert.
„Wir möchten frei sein“
Ajan und Ravza kamen vor sieben Monaten aus dem Irak nach Deutschland. Seit drei Monaten leben sie mit ihren Kindern Junah (10), Aadil (8), Deneb (7) und Ruba (3) nun in Ellwangen. 20 Tage nach ihrer Ankunft gab es in der Unterkunft die ersten Fälle von Covid-19. Auch Ajan hatte sich mit dem Coronavirus infiziert und musste vier Tage isoliert und getrennt von seiner Familie in einem anderen Gebäude untergebracht werden.
Seine Frau Ravza beschreibt die Zeit in der Quarantäne und vor allem die Trennung von ihrem Mann als „sehr schlimm“. Sie und auch ihre Kinder hätten große Angst gehabt. „Zwei Monate mussten wir mit den Kindern im Zimmer bleiben,“ so Ajan. „Meine Frau oder ich sind nur rausgegangen, um das Essen für die Familie zu holen. Ab und zu sind wir mit den Kindern eine halbe Stunde draußen gewesen und dann sofort wieder in das Zimmer zurückgekehrt.“
Sechs Menschen in einem Zimmer – das stelle ich mir auf Dauer belastend vor und frage Ajan, wie sie das geschafft haben. Der 38-Jährige Iraker antwortet: „Was sollten wir machen? Wir hatten ja keine andere Wahl.“
Doch wie verbringt man als Familie die Zeit, wenn es nur wenige Spielzeuge, Bücher oder Bastelsachen gibt? Ajan erzählt: „Wir hatten keinen Kontakt zu anderen Familien und wir durften hier im Zimmer auch nicht so laut sein wegen der Nachbarn. Also haben wir viel geschlafen, gegessen und mit dem Handy gespielt.“
Zusätzlich zur Spielzeug-Spende von IKEA, hat UNICEF Lernmaterial zum Thema Kinderrechte für Kinder, die bisher keinen Zugang zu Bildung hatten, zur Verfügung gestellt – in acht Erstaufnahmeeinrichtungen, acht Ankerzentren und 13 Außenstellen der Einrichtungen in Baden-Württemberg. „Jedes Kind hat das Recht auf Bildung, auf Spiel und auf die Förderung seiner Entwicklung. Durch Covid-19 erhielten viele geflüchtete Kinder jedoch keinerlei Schulunterricht, Lern- oder Spielangebote und konnten die Unterkünfte nicht verlassen. Kinder und Familien in Flüchtlingsunterkünften brauchen deshalb besondere Unterstützung“, sagte die Koordinatorin der UNICEF-Inlandsprogramme Dr. Güven-Güres.
Bevor wir uns von der Familie verabschieden, frage ich Ajan, was er sich für die Zukunft wünscht. Er ringt mit den Worten und beginnt zu weinen. Ich schau mich verzweifelt im Zimmer um und fange Junahs ängstlichen Blick auf, während ihr Vater sagt:
„Ich hatte so Angst, meinen Mann und meine Kinder zu verlieren.“
Im gleichen Haus wie Ajan und Ravza lebt auch Yamina mit ihrem Mann Madu, den zweijährigen Zwillingen Osaro und Ada sowie der drei Monate alten Sunita. Weil sie Angst davor haben, erkannt zu werden, dürfen wir sie nicht fotografieren und ihre richtigen Namen nicht nennen.
Yamina und Madu kommen aus Nigeria. Zusammen haben sie das westafrikanische Land verlassen, in dem weite Teile der Bevölkerung unter einer Hungerkrise und dem Terror der Boko Haram leiden.
Auf ihrer Flucht wurden sie in Libyen getrennt. Während es ihrem Mann gelang nach Italien überzusetzen, kam Yamina in Libyen sechs Mal ins Gefängnis, wo sie vergewaltigt und von ihrem Peiniger geschwängert wurde. Eine Schleuserin versprach ihr, sie gegen Geld aus dem Gefängnis zu holen und sie nach Italien zu bringen. Yamina erzählt uns, dass sie der Frau alles versprochen hätte, um dieser Hölle zu entkommen, obwohl sie kein Geld hatte. In Italien traf Yamina Madu wieder. Aus Angst vor den Schleusern, die Yamina nach ihrer Überfahrt bezahlen sollte, tauchten beide unter und flohen nach Deutschland.
Seit über einem Jahr lebt die Familie nun in Ellwangen. Yamina erzählt uns ihre Geschichte, während Sunita in ihrem Arm schläft. „Ich brülle für Deutschland“, steht auf ihrem kleinen Strampler, der aussieht wie ein Trikot der Nationalmannschaft. Osaro und seine Zwillingsschwester Ada malen mit Buntstiften meinen Notizblock an.
Dass sie mit den Zwillingen schwanger war, bemerkte die 28-Jährige in Italien. Sie hatte große Angst, dass ihr Mann sie verlassen würde, doch er blieb bei ihr und nennt die Kinder „ein Geschenk Gottes“.
Als Yamina mit Sunita im sechsten Monat schwanger war, wurde Madu eines Nachts von der Polizei abgeholt und im Rahmen der Dublin-Regel nach Italien zurückgebracht. Während sie darüber spricht, brechen ihre Wut, ihr Entsetzen und ihre Angst aus ihr heraus. Sie fragt uns: „Warum haben sie das gemacht? Warum? Er ist mein Mann. Ich war schwanger. Wie sollte ich das alles alleine schaffen mit den Kindern?“ Doch nach einem Monat kehrte Madu aus Italien zurück.
Nach Madus Rückkehr hatte sich die Familie mit dem Leben in Ellwangen arrangiert. Doch mit der Ausbreitung des Coronavirus in der Flüchtlingsunterkunft kamen Yaminas Ängste zurück, denn auch sie und ihr Mann wurden positiv auf das Virus getestet.
Wie Ajan und Ravza aus dem Irak erzählt auch Yamina, dass sie mit den Kindern das Zimmer nicht mehr verlassen habe. Madu sei nur nach draußen gegangen, um das Essen für die Familie zu holen. Auch sie verloren während der Quarantäne jegliche Tagesstrukturen: „Wir haben mit Kindern gespielt und den Rest des Tages geschlafen. Man wird träge, wenn man immer an ein und demselben Ort ist.“
Obwohl sich alle Bewohnerinnen und Bewohner der Einrichtung wieder frei bewegen können, hat Yamina nach wie vor große Angst davor, rauszugehen. Hin und wieder gehen sie mit den Kindern auf den Spielplatz, in die Kinderbetreuung möchte sie die beiden Zwillinge nicht geben.
Wir fragen auch Yamina, was sie sich für ihre Zukunft und die ihrer Kinder wünscht. Ihre größte Hoffnung sei es, nicht wieder nach Italien zurück zu müssen. Die Angst vor den Schleusern lässt sie nicht los. Sie träumt davon, dass ihre Kinder ein gutes Leben führen und bald in den Kindergarten gehen können. Und dann sagt sie noch:
„Meine Tochter hat nicht verstanden, warum sie plötzlich nicht mehr draußen spielen durfte.“
Auf einer Bank in der Nähe des Spielplatzes treffen wir Mira. Sie bittet uns ihren richtigen Namen, ihre Fluchtgeschichte und Fotos von ihr nicht zu veröffentlichen. Sie hat Angst von ihrem gewalttätigen Mann erkannt zu werden, den sie zusammen mit ihren zwei Kindern im vergangenen Jahr verlassen hat.
Seit Januar lebt Mira mit ihren beiden Töchtern in Ellwangen in einem Haus, in dem nur alleinreisende Frauen und Mütter mit ihren Kindern untergebracht sind. Das Gebäude ist rund um die Uhr durch zwei Sicherheitskräfte bewacht. Mira fühlt sich hier sicher und versteht sich gut mit den anderen Frauen.
Die junge Mutter zeigt uns Fotos ihrer Kinder auf dem Telefon. Ihre Augen leuchten, ihr Lächeln sieht man hinter dem Mundschutz nicht. Mira strahlt eine unglaubliche Kraft und Zuversicht aus. Die Zeit in Quarantäne hat aber auch sie als schwierig empfunden.
Besonders schwer gefallen ist es Mira, dass sie ihre Töchter allein im Zimmer zurücklassen musste, um Essen zu holen oder nach der Post zu sehen.
Seit mehr als zwei Monaten verbringen Mira und ihre Kinder nun die meiste Zeit in ihrem Zimmer. Sie spielen zusammen, schauen Filme auf dem Handy und malen.
Wie die anderen beiden Familien, die wir in Ellwangen kennengelernt haben, wünscht sich auch Mira eine gute Bildung für ihre Töchter. Sie selbst möchte in Deutschland eine Ausbildung als Krankenschwester machen.
Bevor wir Ellwangen verlassen, treffen wir Ajan und seine Familie wieder. Sie winken uns schon von weitem zu und rufen „Transfer, Transfer“. Gerade haben sie erfahren, dass sie nächste Woche nach Stuttgart verlegt werden, in eine kleinere Unterkunft, in der es für die Familie vielleicht ein bisschen mehr Platz gibt. Und vielleicht können die Kindern dann bald in den Kindergarten und in die Schule gehen. Ajan lacht.
In den vergangenen Jahren hat UNICEF Deutschland immer wieder auf die schwierige Situation von Mädchen und Jungen hingewiesen, die sich mit ihren Familien in Flüchtlingsunterkünften aufhalten. So hat die UNICEF-Studie „Kindheit im Wartezustand“ gezeigt, dass sie hier in einer eigentlich nicht für Kinder geeigneten Umgebung leben – und das oft für viele Monate oder sogar Jahre.
Die Landeserstaufnahme Ellwangen ist Teil der 2016 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und UNICEF ins Leben gerufenen Bundesinitiative zum „Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften“.