Für UNICEF im Einsatz: der erste internationale Fotograf
Im Jahr 1948 fotografierte der Fotograf David „Chim“ Seymour die Situation von Kindern in fünf europäischen Ländern, die im Zweiten Weltkrieg verwüstet worden waren. Der Auftrag setzte Maßstäbe für die fotografische Berichterstattung im Namen der Kinder.
Das Video zeigt einige der beeindruckenden Bilder, die in dieser Zeit entstanden sind.
Es begann im Auftrag der UNESCO
Anfang 1948 schickte der damalige UNESCO-Direktor für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit John Grierson dem Fotografen David Seymour ein Telegramm. Darin schrieb Grierson, dass er es gar nicht abwarten könne, eine anstehende fotografische Reise in einige osteuropäische Länder zu besprechen. Die Länder: Österreich, Griechenland, Ungarn, Italien und Polen.
Seymour, Spitzname „Chim“, akzeptierte den Auftrag ohne Zögern. Das Ziel der Reise: die Situation der Kinder in den fünf vom Krieg verwüsteten europäischen Ländern zu dokumentieren, ebenso die Hilfsmaßnahmen der Vereinten Nationen, darunter UNICEF. Das UN-Kinderhilfswerk war am 11. Dezember 1946, weniger als zwei Jahre zuvor, gegründet worden.
75 Jahre UNICEF
Vor bald 75 Jahren, am 11. Dezember 1946, wurde das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen gegründet, um Kindern im verwüsteten Europa zu helfen. Die einzige Bedingung dabei war, dass diese Hilfe allen Kindern zugutekommen sollte – unabhängig davon, welche Rolle ihr Heimatland im Krieg gespielt hatte.
In all den Jahren seitdem hat UNICEF dazu beigetragen, dass mehr Kinder überleben, zur Schule gehen und vor Ausbeutung geschützt sind als jemals zuvor. Trotzdem: Heute sieht sich UNICEF mit einem seit seiner Gründung nicht mehr dagewesenen Ausmaß humanitärer Krisen und Gewalt gegen Kinder konfrontiert. Erfahren Sie mehr:
Eine „Arbeit der Liebe“
So kam es, dass UNICEFs erster großer internationaler Foto-Auftrag von der UNESCO in Auftrag gegeben wurde. Das Resultat hat die Fotografie-Historikerin Carole Naggar in ihrem Buch „Chim: Children of War“ zusammengefasst.
Naggar schreibt, dass dieser Auftrag zu einer „Arbeit der Liebe" für Seymour wurde, die sich schließlich über sechs Monate erstreckte. Das Ergebnis ist eine der mächtigsten fotografischen Dokumentationen, die je über die Auswirkungen des Krieges auf Kinder angefertigt wurden.
Vielleicht die berühmteste dieser Fotografien machte Seymour in seiner Heimatstadt Warschau, von einem Mädchen namens Tereska. Sie hatte mehrere Jahre in einem Konzentrationslager verbracht.
In einer Schule für traumatisierte Kinder wurde Tereska gebeten, ihr Zuhause zu zeichnen. Sie konnte es nicht, stattdessen malte sie lediglich einen Strudel chaotischer Linien. Das Foto von Chim drückt das Trauma ihrer schrecklichen Erfahrungen aus – sowohl durch die Zeichnung, als auch durch das tief verwirrte Gesicht des Mädchens. Es ist ein eindrucksvolles Zeugnis dessen, was der Krieg Kindern abverlangt (siehe Video ab 02:32).
„Ich spreche die Sprache der Bilder“
Seymours ursprünglicher Name war Dawid Szymin. Geboren 1911 als Teil einer jüdischen Familie in Polen, zog er in den frühen 1930er Jahren zum Studium nach Frankreich. Dort begann er mit der Fotografie.
Nachdem er im Spanischen Bürgerkrieg fotografiert hatte, um die Auswirkungen des Konfliktes auf die Zivilbevölkerung zu dokumentieren, reiste Seymour nach Mexiko und in die USA.
In seine Heimat Polen konnte er nicht zurückkehren, also trat Seymour während des Zweiten Weltkrieges den US-Streitkräften bei und wurde amerikanischer Staatsbürger. Als er nach dem Krieg nach Europa zurückkehrte, nannten ihn Kollegen und Freunde auch weiterhin „Chim“, eine Verkürzung seines polnischen Familiennamens, der für viele schwer auszusprechen war.
„Als Fotograf spreche ich die Sprache der Bilder“, schrieb Seymour für einen Artikel, der 1949 in einem UNESCO-Magazin erschien. „Ich sehe mich um und versuche aufzunehmen, was ich sehe. Und in den letzten sechs Monaten habe ich eine Menge gesehen ...“
Der Artikel erschien kurz vor der UNESCO-Monographie „Children of Europe“, die ebenfalls in diesem Jahr veröffentlicht wurde. Ganz den Seymour-Fotos gewidmet, handelte es sich dabei um einen Aufruf zum Handeln für die „13 Millionen verlassenen Kinder in Europa“, mit denen sich das Buch beschäftigte.
Das spätere Buch der Fotografie-Historikerin Carole Naggar zeigt viele dieser Bilder. Bilder von Schulen, Waisenhäusern, Speisungsprogrammen und Kliniken (siehe Video ab 00:32). Von Kindern, die nach unexplodierter Munition suchen, um sie zu verkaufen, oder Kindern, die helfen, ihr Land wieder aufzubauen. Es gibt auch Fotos von einer „Kinderstadt“ in Ungarn, die teilweise von Kindern selbst geführt wurde. Ebenso von Kindern, vertrieben durch den Bürgerkrieg in Griechenland, der unmittelbar auf den globalen Flächenbrand folgte.
Es gibt keine feindlichen Kinder
Ebenfalls enthalten sind mehrere Fotos, die Chim im Jahr vor der UNESCO-Mission in Deutschland gemacht hatte. Eines davon zeigt ein Baby im Kinderwagen, direkt hinter ihm Ruinen und in der Ferne die Krupp-Fabriken in Essen (siehe Video ab 01:47).
Carole Naggar schreibt: „Seymour war weit davon entfernt, einen persönlichen Groll gegen Deutschland zu hegen. Er war in der Lage, das Schicksal der Kinder als Opfer im weiteren Kontext des Krieges wahrzunehmen und zu vermitteln.“
Diese Fähigkeit, die deutschen Kinder von der Staats-Maschinerie zu trennen, die seine Eltern getötet und einen Großteil des Kontinents verwüstet hatte, war eine von Seymours Leistungen für Kinder. Und dies stimmt auch mit einem der Gründungsprinzipien von UNICEF überein, nämlich dem, dass es keine feindlichen Kinder gibt. Das bedeutet auch, dass Kinder auf allen Seiten eines Konflikts gleichermaßen dabei unterstützt werden müssen, den Gräueln des Krieges zu entgehen.
„Die schreckliche Not und die große Herausforderung“
Über seine Berichterstattung für UNESCO und UNICEF sagte Seymour: „In allen fünf Ländern sah ich immer dieselbe Geschichte: die schreckliche Not und die große Herausforderung. Und ich beobachtete auch die Anfänge, die wunderbaren Anfänge der Hilfe: Kinder, inmitten der Ruinen der elterlichen Welt, die von einem erfüllten und friedlichen Leben träumen. Tatsächlich hat die Arbeit der internationalen und nationalen Hilfsorganisationen echte positive Ergebnisse gebracht.“
Chim dokumentierte auch, was noch alles zu tun war. Neben der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Unterkünften, so sagte er, „stellt die psychologische Aufarbeitung und Umerziehung der Kinder Europas eine größere Herausforderung dar als je zuvor."
1947 gründete David Seymour in Paris zusammen mit drei weiteren namhaften internationalen Fotojournalisten Magnum Photos, noch heute eine der weltweit bedeutendsten Fotodokumentations-Agenturen. Seine Arbeit für die UNESCO aus dem Jahr 1948 – die erste multilaterale Berichterstattung über die Prioritäten und Programme von UNICEF – setzte einen Standard für die fotografische Berichterstattung im Namen der Kinder. Dieser Standard gilt für UNICEF bis heute.
Der Text stammt von unserer internationalen Kollegin Ellen Tolmie. Ellen Tolmie war von August 1990 bis Juni 2013 UNICEF Senior Photography Editor. Sie gehört zum Photojournalism Advisory Council der Alexia Foundation.
** Anm. Jan. 2021: Dieser Beitrag erschien 2016 zuerst in unserem Blog. Da UNICEF in diesem Jahr 75 Jahre alt wird, möchten wir diesen lesenswerten Text gerne erneut mit Ihnen teilen und haben ihn neu für Sie veröffentlicht.
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