Zur Corona-Krise: Leiter des Kölner Jugendamtes gibt Tipps für die Feiertage
"Gemeinsam ganz konkret planen, wie man die Tage gestalten möchte"
Wie ist das hinter uns liegende Corona-Jahr aus Sicht der Jugendämter gelaufen? Und wie können Familien jetzt dafür sorgen, dass sie gut durch die nächsten Wochen und Monate kommen − vor allem, wenn man an die extralangen Weihnachtsferien und die bestehenden Kontaktbeschränkungen denkt. Welche Ratschläge und Tipps können wir dazu weitergeben?
All das haben wir Stephan Glaremin gefragt. Er ist Leiter des Amtes für Kinder, Jugend und Familie der Stadt Köln. Köln erhielt 2018 offiziell das Siegel einer "Kinderfreundlichen Kommune". Die Stadt Köln setzt sich seitdem noch mehr für Kinderfreundlichkeit und Kinderrechte ein. UNICEF und die Stadt Köln arbeiten deshalb seit Jahren eng zusammen. Herr Glaremin hat sich in dieser turbulenten Vorweihnachtszeit Zeit genommen, unsere Fragen zu beantworten.
Lieber Herr Glaremin, wenn Sie das Jahr 2020 reflektieren: Wie haben Sie die letzten Monate erlebt? Und was berichten Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von dieser Zeit?
Glaremin: Es war ein verrücktes Jahr. Das ist wohl der meist geschriebene Spruch auf allen Weihnachtskarten, und der trifft es schon sehr. Wir befinden uns seit März in einem Krisenmodus, der sich zum Teil schon anfühlt wie Normalität. Es gab viele Dinge zu regeln und es waren großes Engagement und maximale Flexibilität nötig, um durch dieses Jahr zu kommen − beruflich wie privat. Das geht alles nicht spurlos an uns vorbei. Es sind aber nicht nur schlechte Spuren, denn es entsteht auch viel Neues: Dinge werden hinterfragt und manches wir dadurch einfacher und auch besser geregelt. Ich merke, wie sehr Köln diese Herausforderung angenommen hat und dass wir sie gemeinsam meistern werden.
Was sind Ihre Ratschläge für die nächste Zeit: Wie kommen Familien gut durch die Weihnachtsferien und den Winter und wie bekommt man mehr Struktur in den Alltag?
Glaremin: Mein Tipp an Familien: Gemeinsam ganz konkret planen, wie man die Tage gestalten möchte. Denn klare Regeln und feste gemeinsame Programmpunkte helfen dabei, sich nicht vor der Spielkonsole oder am Handy zu verlieren und eine Struktur zu finden.
- Zum Beispiel einen festen Zeitpunkt zum Frühstücken vereinbaren und vielleicht den Frühstückstisch in dieser Zeit besonders schön decken oder auch mal etwas Besonderes zum Frühstück einplanen.
- Zeiten zum Rausgehen festlegen und diese genauso einplanen wie Lernzeiten, Handy-/Computerzeiten und gemeinsame Spiel- oder Filmzeiten. Dabei ein gutes Gleichgewicht zwischen „allein“ und „gemeinsam“ finden, denn auch jetzt wollen Jugendliche unabhängig bleiben und schätzen nicht unbedingt immer den gemeinsamen Familienspaziergang.
- Und ganz wichtig gerade im Wachstum: Sport zum Auspowern und zum Abbauen von Aggressionen!
- Bei kleineren Kindern beispielsweise gemeinsame Spiel- und Tobe- oder Kuschelzeiten einplanen und diese dann auch konsequent und bewusst nutzen − und nicht noch nebenbei eine Mail schreiben.
- Bettgehzeiten festzulegen und auch einzuhalten ist ebenfalls wichtig.
- Und vielleicht einfach mal Sachen machen, die man noch nie gemacht hat: Etwa eine Höhle im Wohnzimmer bauen und darin vorlesen. Oder rausgehen und mit jedem Buchstaben des Alphabets eine Sache suchen, gemeinsam eine Skulptur aus Holz oder leeren Plastikbehältern bauen oder eine Fotostory mit dem Handy machen … Mit solchen Aktionen kann man sich und seinen Kindern selbst Highlights schaffen.
Wir möchten Sie als Eltern unterstützen!
In der Corona-Pandemie stellen sich Eltern viele Fragen. Wir von UNICEF geben Tipps und teilen das Wissen unserer Expert*innen. Hier finden Sie all unsere Corona Ratgeber für Familien.
Was sind im zurückliegenden Jahr aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen für Kinder und Jugendliche gewesen?
Glaremin: Die größte Herausforderung war der Wegfall einer verlässlichen Struktur. Im ersten Lockdown wurden Kitas und Schulen, ja sogar Spielplätze, geschlossen. Wir mussten alle erst einmal lernen, mit den Folgen von Corona zu leben. Aber diese Lernerfahrung ging oftmals zu Lasten von Kindern und Jugendlichen. Sie brauchen Struktur und Sicherheit im Aufwachsen, und gerade in so unruhigen Zeiten ist es schwer, dies zu erreichen.
Kinder und Jugendliche brauchen Freiräume zum Ausprobieren und Experimentieren − und davon ist ein großer Teil weggefallen, was für uns Erwachsene albern klingen mag, aber es ist so: Die Party zum 18. Geburtstag etwa ist nicht beliebig verschiebbar.
Corona hat auch einen "Brennglaseffekt" und spült Schwierigkeiten und Missstände an die Oberfläche, die wir für die Zukunft angehen müssen. Ich denke da an Themen wie Digitalisierung in Schulen, aber auch verlässliche Beteiligungsstrukturen, damit Kinder mit ihren Interessen und Bedürfnissen gehört werden und nicht nur Gegenstand in politischen Debatten und Regeln bleiben.
Haben Sie einen Anstieg der Gewalt gegen Kinder beobachtet? Mussten Sie vom Jugendamt öfter tätig werden als sonst?
Glaremin: Im ersten Lockdown haben wir das diese Entwicklung nicht beobachtet. Mit der Zunahme der zweiten Welle aber leider schon und wir werden öfter tätig. Wir sind weiterhin sehr eng an den Familien dran. Dies funktioniert nur durch den hohen Einsatz unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und denen der freien Träger. Kinderschutz kann nicht nur vom Schreibtisch aus geschehen, sondern dazu gehören auch Hausbesuche und der direkte Kontakt. Es sind übrigens nicht nur Fälle körperlicher Gewalt, denen wir begegnen. Gewalt hat vielfältige Gesichter und es bedarf einer hohen Fachkompetenz, aber auch Empathie, jegliche Form von Gewalt zu erkennen und Kindern und Jugendlichen Schutz zu bieten.
Gab es in diesem Corona-Jahr auch positive Nachrichten oder Aspekte für Kinder und Jugendliche?
Glaremin: In vielen Familien haben gerade jüngere Kinder mit Sicherheit auch davon profitiert, mehr Zeit in der Familie, mit einem oder beiden Elternteilen zu verbringen. Vergessene Spiele und Aktivitäten wurden wiederentdeckt, manch einer hat vielleicht wieder mehr gelesen oder Zeit gefunden zu malen … Lauter Dinge, die im Alltag sonst zu kurz kommen.
Welche Lehren ziehen Sie aus dem Corona-Jahr 2020? Was haben wir gemeinsam gelernt?
Glaremin: Dass alles länger dauern kann, als man glaubt. Und dass wir uns bei allen notwendigen Corona-Einschränkungen auch immer über die Folgen für Kinder und Jugendliche im Klaren sein müssen. Für mich ist eine wichtige Lehre, dass der gesellschaftliche Wert von Kindertagesstätte, Tagespflege und Schule stärker erkannt und von allen gesehen wird. Daraus ist eine große Einigkeit darüber entstanden, dass wir gemeinsam versuchen müssen, diese Strukturen möglichst lange und umfassend aufrechtzuerhalten.
Weiterhin haben wir, glaube ich, alle in diesem Jahr gelernt, flexibler und kreativer im Handeln und Denken zu werden. Wir haben uns immer wieder auf neue Situationen eingestellt und so bedarfsorientierte Lösungen entwickelt.
Was werden die verlängerten Schulferien bzw. auch ein Weihnachten ohne großen Familienkreis für Auswirkungen auf die Kinder haben – vor allem für Kinder aus benachteiligten Familien?
Glaremin: Wir haben dazu schon gewisse Erfahrungswerte, denn auch ohne Pandemie gab es in den Jahren davor über die Weihnachtsferien schon viele freie und ruhige Tage. Wir wissen und kennen es alle, dass es in dieser Zeit auch zu Spannungen kommen kann. Das kann jede Familie betreffen – mit und ohne Besuch. Und genau das wird sich voraussichtlich in diesem Jahr noch verstärken. Aber auch das werden wir gemeinsam hinbekommen. Dies ist aber keine Aufgabe von Kindern, sondern von uns Erwachsenen.
An wen kann man sich wenden, wenn man sich in der aktuellen Corona-Krise überfordert fühlt oder einen Rat braucht? Dazu stehen erfahrene, kostenlose Anlaufstellen und Beratungsangebote zur Verfügung. Hier finden Sie eine Übersicht:
- Wenn Sie als Eltern Unterstützung brauchen, finden Sie Hilfsangebote unter folgendem Link: Übersicht über aktuelle Informationen zu Hilfs- und Unterstützungsangebote des Bundesministeriums für Familie
- Die "Nummer gegen Kummer" bietet Telefonberatung für Kinder, Jugendliche und Eltern.
- Das Elterntelefon richtet sich an Mütter und Väter, die sich unkompliziert und anonym konkrete Ratschläge holen möchten.
- Die Initiative #keinKindalleinlassen gibt eine Übersicht über Tipps und Strategien, die helfen könnten, wenn Sie sich Sorgen um ein Kind und seine Familie machen.
Gemeinsam gegen das Coronavirus
Wir müssen alle zusammenarbeiten, um das Coronavirus zu stoppen. Das gilt hier in Deutschland und erst recht weltweit. Wir von UNICEF arbeiten in unseren Programmländern intensiv daran, vor allem Kinder und Familien vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus zu schützen und sie durch diese Krise zu begleiten. Dabei brauchen wir Ihre Unterstützung. Jeder Beitrag hilft.