Statement

Statement der UNICEF-Exekutivdirektorin zum Schutz der Kinder in Gaza vor dem UN-Sicherheitsrat

New York/Köln

"Vielen Dank, dass wir heute zusammenkommen, um über die sich verschlechternde Lage der Kinder in Palästina und in Israel zu sprechen.

Ich möchte diesem Rat für die Verabschiedung der Resolution 2712 danken, die die unverhältnismäßigen Auswirkungen dieses Krieges auf Kinder anerkennt, indem sie die Konfliktparteien auffordert, den Kindern den besonderen Schutz zu gewähren, auf den sie nach dem Völkerrecht Anspruch haben.

Wichtig ist, dass die Resolution längere humanitäre Pausen und Korridore im Gazastreifen fordert. Ich hoffe, dass diese schnellstmöglich umgesetzt werden, damit humanitäre Organisationen Menschen in Not erreichen können, insbesondere Kinder. UNICEF begrüßt das temporäre Waffenstillstandsabkommen. Wir sind in der Lage, die dringend benötigte humanitäre Hilfe im Gazastreifen rasch auszuweiten, aber natürlich werden mehr Mittel benötigt, um die wachsenden Bedarfe zu decken.

Dies reicht jedoch noch lange nicht aus: Der Krieg muss beendet werden, und das Töten und Verstümmeln von Kindern muss sofort aufhören.

Exzellenzen, bevor ich Sie ausführlicher über die Lage im Gazastreifen informiere, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf die Lage der Kinder in Israel und im Westjordanland lenken.

Seit dem 7. Oktober sind Berichten zufolge 35 israelische Kinder getötet worden, während mehr als 30 in Gaza als Geiseln festgehalten werden. Wie der UN-Generalsekretär sagte, ist die Vereinbarung über die Freilassung der Geiseln zu begrüßen, aber es muss noch viel mehr unternommen werden. UNICEF fordert die sichere Freilassung aller entführten Kinder.

In der vergangenen Woche reiste der stellvertretende UNICEF-Exekutivdirektor nach Israel, wo er mit Angehörigen der entführten israelischen Kinder zusammentraf. Sie berichteten ihm von ihrer Sorge und ihrer zunehmenden Angst um die Sicherheit ihrer Kinder.

Ich hatte geplant, in der vergangenen Woche nach Israel und ins Westjordanland zu reisen, aber auf ärztlichen Rat hin musste ich meinen Besuch verschieben, weil ich mir bei einem Autounfall auf dem Weg nach Rafah Verletzungen zugezogen hatte.

Unser stellvertretender Exekutivdirektor besuchte das Westjordanland, um sich ein Bild von der sich verschlechternden Sicherheitslage und der humanitären Situation zu machen. In den vergangenen sechs Wochen wurden 56 palästinensische Kinder getötet und zahlreiche Kinder aus ihren Häusern vertrieben. Wir schätzen, dass 450.000 Kinder im Westjordanland humanitäre Hilfe benötigen. Im Westjordanland leisten UNICEF und seine Partner Hilfe in den Bereichen psychische Gesundheit und Kinderschutz, Wasser- und Sanitärversorgung sowie Bildung für 280.000 Kinder.

Kürzlich bin ich von einem Besuch im Süden des Gazastreifens zurückgekehrt, wo ich Kinder, Familien und UNICEF-Mitarbeitende getroffen habe. Was ich gesehen und gehört habe, hat mich zutiefst erschüttert.

Als ich das Nasser-Krankenhaus in Khan Yunis besuchte, wimmelte es dort von Menschen. Neben Kranken und dem medizinischen Personal beherbergt das Krankenhaus Tausende Vertriebene. Sie schlafen in den Fluren und Gemeinschaftsräumen des Krankenhauses.

Ich sprach mit einem 16-jährigen Mädchen in ihrem Krankenbett. Sie wurde bei der Bombardierung ihres Wohnviertels schwer verletzt, und die Ärzte sagten ihr, dass sie nie wieder laufen wird. In der Neugeborenenstation des Krankenhauses begegnete ich winzigen Babys, die in Inkubatoren um ihr Leben kämpften, während das Personal sich sorgte, wie sie die Maschinen ohne Treibstoff am Laufen halten könnten.

Während meines Aufenthalts in Khan Yunis sprach ich auch mit einer UNICEF-Mitarbeiterin, die sich trotz des Verlusts von 17 Mitgliedern ihrer eigenen Familie heldenhaft dafür einsetzt, dass Kinder und Familien in Gaza Zugang zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen erhalten.

Als Mutter von vier Kindern gehört sie zu den unzähligen Eltern in Gaza, die in ständiger Angst um ihre Familie leben. Angesichts des schrecklichen Tributs, den dieser Krieg von Kindern im Gazastreifen fordert, ist ihre Angst sehr begründet.

Mehr als 5.300 palästinensische Kinder sind Berichten zufolge in nur 46 Tagen getötet worden. Das sind mehr als 115 Kinder pro Tag, jeden Tag, über Wochen hinweg. Basierend auf diesen Zahlen sind vierzig Prozent der Getöteten in Gaza Kinder. Das ist beispiellos. Mit anderen Worten: Der Gaza-Streifen ist heute der gefährlichste Ort der Welt, um ein Kind zu sein.

Wir erhalten zudem Berichte, dass mehr als 1.200 Kinder unter den Trümmern der zerbombten Gebäude liegen oder vermisst werden.

Die Zahl der Todesopfer in der aktuellen Krise hat die Gesamtzahl der Todesopfer während früherer Eskalationen bei weitem übertroffen. Zum Vergleich: In den 17 Jahren zwischen 2005 und 2022, während derer schwerwiegende Verletzungen der Kinderrechte überwacht und gemeldet wurden, wurden insgesamt 1.653 getötete Kinder verifiziert.

Kinder, die den Krieg überleben, müssen damit rechnen, dass die wiederholten traumatischen Ereignisse ihr Leben langfristig prägen werden. Die Gewalt und die Unruhen, die sie miterleben, können zu toxischem Stress führen, der ihre körperliche und kognitive Entwicklung beeinträchtigt. Schon vor der jüngsten Eskalation benötigten mehr als 540.000 Kinder in Gaza psychische und psychosoziale Unterstützung - die Hälfte aller Kinder in Gaza.

Heute sind weit über 1,7 Millionen Menschen innerhalb des Gazastreifens auf der Flucht, die Hälfte von ihnen sind Kinder.

Besonders besorgt sind wir über Berichte über die steigende Zahl vertriebener Kinder, die entlang der Evakuierungskorridore im Süden von ihren Familien getrennt wurden oder allein zur medizinischen Versorgung in Krankenhäuser kommen. Diese Kinder sind besonders schutzbedürftig und müssen dringend identifiziert, versorgt und bei der Suche nach Angehörigen und der Zusammenführung mit ihren Familien unterstützt werden.

Zusätzlich zu den Bomben, Raketen und Schüssen sind Kinder im Gazastreifen durch die katastrophalen Lebensbedingungen extrem gefährdet. Eine Million Kinder - oder eigentlich alle Kinder in Gaza - sind von Ernährungsunsicherheit betroffen. Dies könnte sich zeitnah zu einer katastrophalen Ernährungskrise ausweiten.

Wir gehen davon aus, dass in den nächsten Monaten die Zahl der Kinder im Gazastreifen, die an lebensbedrohlich schwerer Mangelernährung leiden, um fast 30 Prozent steigen könnte.

Gleichzeitig liegt die Wasserproduktionskapazität bei nur fünf Prozent der normalen Kapazität, so dass Familien und Kinder mit drei Litern oder weniger Wasser pro Person pro Tag zum Trinken, Kochen und Waschen auskommen müssen. Gleichzeitig sind Wasserpumpen, Entsalzungs- und Abwasseraufbereitungsanlagen wegen Treibstoffmangel nicht mehr in Betrieb. Die Sanitärversorgung ist zusammengebrochen.


Diese Bedingungen führen zu Krankheitsausbrüchen, die für besonders gefährdete Menschen wie Neugeborene, Kinder und Frauen - insbesondere für akut mangelernährte Kinder - lebensbedrohlich sein können. Wir sehen Fälle von Durchfallerkrankungen und Atemwegsinfektionen bei Kindern unter fünf Jahren. Und wir gehen davon aus, dass sich die Situation mit dem Einsetzen des kalten Winterwetters weiter verschlechtern wird.

Die Gefahr für die öffentliche Gesundheit in Gaza wird durch den faktischen Zusammenbruch des Gesundheitssystems weiter verschärft. Mehr als zwei Drittel der Krankenhäuser sind nicht mehr funktionsfähig, weil es an Treibstoff und Wasser mangelt oder weil sie bei Angriffen schwer beschädigt wurden. Darüber hinaus schätzt die WHO, dass mindestens 16 medizinische Fachkräfte getötet und 38 verletzt wurden.

Kranke in Kliniken werden verletzt und getötet oder sterben aufgrund des Mangels an Medikamenten und medizinischer Versorgung. Vergangene Woche wurden in einem gemeinsamen Einsatz von UNICEF und weiteren Organisationen 31 Frühgeborene aus dem Al-Shifa-Krankenhaus in das Emirati-Krankenhaus im Süden des Gazastreifens verlegt. Achtundzwanzig der Frühgeborenen werden nun in Ägypten behandelt.

Krankenhäuser sollten niemals angegriffen oder für Kampfhandlungen genutzt werden. Angesichts der Tausenden Vertriebenen, die in den Gesundheitseinrichtungen des Gazastreifens Zuflucht suchen, kann ich diesen Punkt nicht genug unterstreichen.

Wir beobachten zudem verheerende Angriffe auf Schulen - rund 90 Prozent aller Schulgebäude wurden beschädigt. Fast 80 Prozent der verbleibenden schulischen Einrichtungen werden als Unterkünfte für Binnenflüchtlinge genutzt. Aber auch diese Orte, an denen Kinder und Familien nach der Vertreibung aus ihren Häusern Schutz suchen, geraten unter Beschuss.

Am vergangenen Wochenende wurden bei Angriffen auf zwei Schulen, darunter die Al-Fakhura-Schule des UNRWA, in der Binnenvertriebene untergebracht waren, Berichten zufolge mindestens 24 Menschen getötet. UNICEF verurteilt jegliche Angriffe auf Schulen.

Überall in Palästina und in Israel begehen die Konfliktparteien schwere Kinderrechtsverletzungen, darunter die Tötung, Verstümmelung und Entführung von Kindern sowie Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser und die Verweigerung des Zugangs für humanitäre Hilfe.

In Gaza jedoch sind die Auswirkungen der Gewalt auf Kinder katastrophal, wahllos und unverhältnismäßig. Wenn der Krieg ein Ende nimmt, wird die Verseuchung durch explosive Kriegsmunitionsrückstände beispiellos sein, mit möglicherweise Zehntausenden von Blindgängern, die über den Gazastreifen und darüber hinaus verstreut sind - eine tödliche Bedrohung für Kinder, die Jahrzehnte andauern könnte.

Innerhalb des Gazastreifens hat der Krieg zum Tod von mehr als 100 UNRWA-Mitarbeitenden geführt – mehr Mitarbeitende der Vereinten Nationen als je zuvor. Vor ein paar Tagen wurden eine WHO-Kollegin und ihr sechs Monate altes Baby, ihr Mann und ihre beiden Brüder getötet.

Exzellenzen, damit Kinder überleben und die humanitären Teams bleiben und effektiv helfen können, reichen humanitäre Pausen nicht aus. UNICEF fordert einen dringenden humanitären Waffenstillstand, um dieses Blutvergießen sofort zu beenden.

Wir sind besorgt, dass eine weitere militärische Eskalation im Süden des Gazastreifens die humanitäre Lage dort exponentiell verschlechtern würde, was zu weiteren Vertreibungen führen und die Zivilbevölkerung in einem noch kleineren Gebiet zusammendrängen würde. Angriffe auf den Süden müssen vermieden werden.

UNICEF ist strikt gegen die Einrichtung so genannter "sicherer Zonen". Im Gazastreifen ist kein Ort sicher. Und die vorgeschlagenen Zonen verfügen nicht über die Infrastruktur oder die Schutzmaßnahmen, die den Bedarfen einer so großen Zahl von Zivilisten gerecht werden.

Wir fordern alle Beteiligten erneut auf, das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechtsnormen, einschließlich der Grundsätze der Notwendigkeit, der Unterscheidung, der Vorsichtsmaßregel und der Verhältnismäßigkeit, unverzüglich und uneingeschränkt zu achten.

Wir fordern sie auf, über die gesetzlichen Bestimmungen hinauszugehen, um Kinder und die zivile Infrastruktur, auf die sie angewiesen sind, zu schützen und alle im Gazastreifen festgehaltenen zivilen Geiseln, insbesondere Kinder, unverzüglich und bedingungslos freizulassen.

Wir fordern die Akteure auf, sich an die Resolution 2712 zu halten und einen sicheren und uneingeschränkten humanitären Zugang zum Gazastreifen und innerhalb des Gazastreifens, einschließlich des Nordens, zu gewährleisten. Die Beteiligten müssen den sofortigen Zugang zu lebenswichtigen Gütern, einschließlich Treibstoff, ermöglichen, die für Lastwagen, die Wasserentsalzung, Wasserpumpen und die Mehlproduktion benötigt werden. Wir müssen die Erlaubnis erhalten, lebenswichtige Wasser-, Sanitär- und Hygienegüter sowie Planen, Zelte und Pfähle in den Gazastreifen zu bringen.

Wir fordern die Beteiligten zudem dazu auf, allen Zivilisten, die eine Notunterkunft und einen sicheren Zufluchtsort suchen, freiwillige Bewegungsfreiheit und sicheres Geleit zu gewähren, alle Wasserleitungen in den Gazastreifen wieder zu öffnen, zu reparieren und ihre Kapazität zu erhöhen und sicherzustellen, dass das Wasser sicher und nicht kontaminiert ist.

Exzellenzen, die wahren Kosten dieses jüngsten Krieges in Palästina und Israel werden in Kinderleben gemessen - in jenen, die der Gewalt zum Opfer gefallen sind und jenen, die sie für immer prägen wird. Ohne ein Ende der Kampfhandlungen und einen uneingeschränkten humanitären Zugang werden die Kosten weiter exponentiell ansteigen.

Die Zerstörung des Gazastreifens und die Tötung von Zivilisten werden der Region weder Frieden noch Sicherheit bringen. Die Menschen in dieser Region haben Frieden verdient. Nur eine politische Lösung über Verhandlungen - eine Lösung, die den Rechten und dem Wohlergehen dieser und künftiger Generationen israelischer und palästinensischer Kinder Vorrang einräumt - kann dies gewährleisten.

Ich fordere alle Akteure auf, diesem Aufruf zu folgen und mit einem humanitären Waffenstillstand als erstem Schritt auf dem Weg zu einem dauerhaften Frieden zu beginnen. Und ich fordere Sie als Mitglieder des Sicherheitsrates auf, alles in Ihrer Macht Stehende zu tun, um diese Katastrophe für Kinder zu beenden.

Vielen Dank."

Christine Kahmann

Christine KahmannSprecherin - Nothilfe

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