Syrien nach den Erdbeben: „Kinder leiden unter Panikattacken, Stress und Schlaflosigkeit“
Gregor von Medeazza ist stellvertretender Repräsentant für UNICEF in Namibia und kommt gerade von einem sechswöchigen Nothilfe-Einsatz aus dem Erdbebengebiet im Nordwesten Syriens zurück. Hier erzählt er, was er dort erlebt hat und wie UNICEF den Kindern hilft
Du hast kürzlich als leitender Nothilfespezialist in der Erdbebenregion gearbeitet, um die Hilfe für Kinder in Nordwestsyrien zu unterstützen. Wie ist die Lage aktuell?
Die Erdbeben im Februar haben die bereits bestehende Krise für Kinder und Familien im Nordwesten Syriens verschärft. Nach zwölf Jahren Konflikt sind die Folgen der Erdbeben der aktuelle Horror, der junge Leben zusätzlich beeinträchtigt. Die Kinder brauchen jetzt und weiterhin alle Unterstützung, um sich von diesem Schock zu erholen. Die Erdbeben und der Konflikt fordern einen immens hohen physischen und mentalen Tribut.
Über 10.600 Gebäude wurden in Nordwestsyrien durch die Erdbeben in unterschiedlichem Ausmaß beschädigt oder zerstört. Dadurch wurden rund 100.000 Menschen neu über das Gebiet verteilt, von denen die meisten bereits mehrfach in den letzten Jahren vertrieben wurden. Vor dem Erdbeben lebten bereits zwei Drittel der 2,9 Millionen Binnenflüchtlinge in Nordwestsyrien in Lagern. Ich habe gesehen, dass die Lager überfüllt und nur schlecht mit Wasser- und Sanitäranlagen ausgestattet sind. So steigt das Risiko von Krankheitsausbrüchen, die insbesondere Kinder betreffen. 1,1 Millionen Menschen benötigen dringend Hilfe im Bereich Wasser und Hygiene, damit sich die grassierende Cholera-Epidemie nicht noch weiter ausbreitet. Um die Cholera zu bekämpfen, unterstützte UNICEF bereits im März eine Cholera-Impfkampagne für 1,7 Millionen Menschen. Zusammen mit der Weltgesundheitsorganisation und weiteren Partnern gab es zudem eine Masern- und Polio-Impfaktion um 800.000 Kinder vor diesen Infektionskrankheiten zu schützen. UNICEF unterstützt auch den Transport von Trinkwasser und die Reparatur wichtiger Wasser- und Sanitärinfrastruktur.
Meine UNICEF-Kolleg*innen schätzen, dass als Folge der Erdbeben etwa 200.000 Kinder die Schule abgebrochen haben. Mindestens 452 Grund- und Sekundarschulen in Nordwestsyrien wurden unterschiedlich stark beschädigt. So steigt die Zahl der Kinder, die aktuell nicht lernen können auf eine Million – das hat fatale Auswirkungen auf ihre Zukunft. Deswegen unterstützt UNICEF Lernmaßnahmen im Nordwesten Syriens. Dazu gehören Selbstlern- und Förderklassen, die fast 65.500 Kinder in mehr als 150 Schulen und Lernräumen in 58 Gemeinden erreichen. Mit dem so genanntem „Back-to-Learning Outreach“ haben wir mehr als 18.200 Kinder erreicht, mit dem Ziel, dass Kinder wieder zum Lernen zurückzukehren.
Du hast die Hilfe von dem UNICEF-Büro in Gaziantep in der Türkei heraus koordiniert. Kannst du beschreiben, wie die Zusammenarbeit mit den UNICEF-Kolleg*innen lief, die ja selber auch vom Erdbeben betroffen waren?
In der Tat haben sowohl unsere nationalen als auch internationalen Kollegen*innen, die seit vielen Jahren Teil des Nordwestsyrien-Teams mit Sitz in Gaziantep sind, diese traumatischen Erdbeben mitten in der Nacht in ihren Häusern selbst erlebt. Dieses Erlebnis wird leider viele weiter verfolgen.
In den frühen Morgenstunden kamen alle Kollegen*innen in einem Zustand des Schocks und der Panik in das Büro, das dank seiner robusten Infrastruktur als relativ sicherer Ort galt. Viele von ihnen kamen mit ihren Familien und trugen teilweise noch ihre Schlafanzüge.
Ich habe immensen Respekt und empfinde großen Stolz für diese Kollegen*innen, die sofort begonnen haben, auf die Notsituation in der Türkei und im Nordwesten Syriens zu reagieren, während sie mit ihrem eigenen Trauma und dem ihrer Kinder fertig werden mussten. Die ersten paar Wochen schliefen weit über hundert Menschen auf dem Boden im Büro und teilten sich sehr begrenzten Raum, ohne Duschen und auch ohne fließendes Wasser. Sie mussten Schnee schmelzen, um ausreichend Wasser für alle zu bekommen!
UNICEF hat dann über 50 weitere Kollegen*innen eingestellt, um das Kernteam und die Erdbebenhilfe weiter zu unterstützen und zu stärken. Ich hatte das Privileg, einer von ihnen zu sein. Ich war selten auf einer so intensiven Mission, bei der Kollegen und Kolleginnen trotz aller persönlichen Strapazen ein absolut hervorragendes Maß an Engagement und Professionalität bewahrten.
Mir ist es aber auch wichtig daran zu erinnern, dass mehr als 100 NGO Mitarbeiter*innen ihr Leben durch das Erdbeben verloren haben, der Großteil von ihren war lokale Angestellte.
Kannst Du erklären, wie UNICEF seine Arbeit in Nordwestsyrien nach den Erdbeben verändert hat?
UNICEF hat bereits seit vielen Jahren über lokale Partner Hilfe für Kinder im Nordwesten Syriens geleistet. Als Katastrophenvorsorge hatten wir dort viele Hilfsgüter schon vor der Katastrophe gelagert. So konnten wir innerhalb von 48 Stunden nach dem ersten Beben lebensrettende Ernährungs-, Gesundheits- und Hygienemaßnahmen umsetzen.
Vor den Erdbeben konnte die UN, einschließlich UNICEF, zwar Hilfsgüter nach Nordwestsyrien liefern, hatte allerdings keinen direkten Zugang in das Gebiet, um von dort aus mit eigenem Personal Hilfe für die betroffene Bevölkerung zu leisten. Wir haben die Hilfsprogramme von Gaziantep in der Türkei geleitet und eng mit sehr engagierten lokalen NGOs zusammengearbeitet, die in Nordwestsyrien tätig sind. Für Hilfslieferungen nutzten wir seit dem Jahr 2014 die türkisch-syrischen Grenzübergänge, die vom UN-Sicherheitsrat für den Transport genehmigt worden waren. Angesichts der akuten Notlage nach den Erdbeben erhielten UNICEF und andere UN-Organisationen eine kurzfristige Genehmigung von der Regierung Syriens, um in den Nordwesten des Landes zu gelangen und von dort die Hilfskoordination zu unterstützen sowie die Bedarfe zu ermessen. Ich selbst konnte somit mehrfach die betroffenen Gebiete besuchen und dabei helfen, die Erdbeben-Nothilfe mit aufzubauen.
Seitdem hat UNICEF seine Arbeit im Nordwesten Syriens stark ausgeweitet. Trotz der tragischen Umstände bietet der bessere Zugang in den Nordwesten Syriens die Möglichkeit, unsere Unterstützung und Fürsprache für betroffene Menschen zu stärken, Präsenzschutz zu geben und die lokalen Partner zu unterstützen.
Meine UNICEF-Kolleg*innen sind nun fast täglich vor Ort. Bis Mitte April hat UNICEF rund 40 Hilfsmissionen in den Nordwesten Syriens durchgeführt und auch an einer beträchtlichen Anzahl der 70 gemeinsamen Hilfsmissionen mit anderen UN-Organisationen teilgenommen.
Was hast du bei deinen Besuchen in den von Erdbeben betroffenen Gebieten im Nordwesten Syriens gesehen?
Ich habe gesehen, dass Kinder und Eltern, die in Gemeinschaftsunterkünften Schutz suchten, Anzeichen von schweren Panikattacken, Stress, Schlaflosigkeit und Desorientierung zeigen. Ich habe Kinder getroffen, die Angst haben und stottern. Sie brauchen unbedingt langfristige psychische und psychosoziale Unterstützung.
Eine Woche nach meiner Ankunft erlebte ich, dass rund 1.700 Zelte von schweren Regenfällen, Überschwemmungen und Stürmen beschädigt, zerstört oder weggespült wurden. Das war enorm belastend für Hunderte von Familien, die gerade erst durch das Erdbeben obdachlos geworden waren.
Ich habe auch beobachtet, dass das Zusammenleben in den Gemeinschaftsunterkünften für Frauen und Kinder gefährlich sein kann. Durch überfüllte Räume, mangelnde Privatsphäre, unzureichende Beleuchtung, fehlende angemessene Wasser-, Sanitär- und Hygieneversorgung rechnen meine Kolleg*innen und ich damit, dass Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt zunehmen könnten. Deswegen ist es so wichtig, dass UNICEF daran arbeitet, geschlechtsspezifische Gewalt, sexuelle Ausbeutung und sexuellen Missbrauch zu verhindern.
Tausende von Menschen aus Deutschland und vielen anderen Ländern haben unmittelbar nach der Katastrophe geholfen. UNICEF ist äußerst dankbar für die großzügige Unterstützung, die dazu beigetragen hat, schnell lebensrettende Hilfe für Kinder zu leisten. Viele Kinder und ihre Familien haben alles verloren und es ist entscheidend, sie langfristig zu unterstützen, damit sie wieder ein normales Leben führen können.
Welche Hilfe brauchen die Kinder nun dringend?
Wir müssen beispielsweise verhindern, dass sich hochansteckende Krankheiten wie Cholera ausbreiten oder Kinder durch Mangelernährung gefährdet werden. Mitte April hatten wir in Nordwestsyrien über 65.000 Fälle von Cholera. Wenn diese Cholera-Fälle außer Kontrolle geraten, wäre dies noch eine weitere Katastrophe in dieser komplexen Lage. Die ohnehin anfällige Wasser- und Sanitärinfrastruktur wurde durch die Erdbeben stark in Mitleidenschaft gezogen. Wasserreservoirs, Wassertürme, Wasserstationen und Sanitäranlagen wurden beschädigt oder sind eingestürzt. Dadurch sind die Maßnahmen zur Bekämpfung der Cholera enorm beeinträchtigt.
Auch der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist nach wie vor prekär. 67 Gesundheitseinrichtungen wurden durch das Beben ganz oder teilweise beschädigt. Noch ist es zu früh, um die Auswirkungen der Beben auf die Ernährungslage von Kindern zu erkennen. Doch wir rechnen damit, dass die Zahl der mangelernährten Kinder steigen wird. Deswegen arbeiten wir rund um die Uhr, um sicheres Trinkwasser, sanitäre Einrichtungen sowie die medizinische Versorgung bereitzustellen.
Darüber hinaus müssen Mädchen und Jungen ihre Bildung wieder aufnehmen können und die Unterstützung erhalten, die sie brauchen, um die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Zusammen mit unseren Partnern bauen wir Notschulen auf und statten Kinderzentren mit Spielmaterialien aus, damit Kinder wieder Kinder sein können.
Wichtig ist vor allem, dass wir langfristig an der Seite der Kinder stehen.
Denn für jedes von den Erdbeben betroffene Kind kann die mentale Verarbeitung des Erlebten lange dauern. Und gleichzeitig leben die Kinder weiterhin in einem Konflikt, unter desolaten Bedingungen. Kurzum: Wir werden unsere unerschütterliche Unterstützung für jedes Kind in Syrien fortsetzen und niemals aufgeben.