Paradies ohne Ausgang – junge Flüchtlinge in Italien
Sizilien ist ein Paradies. Schon jetzt im Mai hängen die Urlauber ihre Beine ins Wasser und sonnen sich an den Stränden, die zu den schönsten der Welt zählen. Eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten Siziliens ist das antike Theater von Taormina. Vor dieser Kulisse treffen sich morgen und am Samstag sieben der mächtigsten Politiker der Welt zum G7-Gipfel.
Für viele politische Beobachter war die Wahl des Tagungsortes wie ein Ausrufezeichen an die G7 und ihre Agenda. Denn in Sizilien setzen derzeit wieder die meisten Menschen ihren ersten Fuß nach Europa, die vor Krieg, Verfolgung, Hunger und Perspektivlosigkeit fliehen. Knapp 13.000 waren es allein im vergangenen Monat. Die meisten kommen aus Nigeria, Pakistan und Gambia.
Doch bisher sieht es nicht so aus, als würden Flucht und Migration eine große Rolle spielen in den Resolutionen der G7. Dabei wächst die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die allein ihre Heimat verlassen, stetig.
Flüchtlinge in Italien: Ankommen in der Fremde
Auch Numu aus Gambia kam in Sizilien an. Vor acht Monaten. Allein. Seitdem verbringt der 17-Jährige seine Tage in einem Zentrum für unbegleitete junge Flüchtlinge in Palermo, das von der Organisation Asante geführt wird. Ausgelegt ist die Unterkunft für höchstens 40 Personen. 35 wohnen hier zurzeit.
Ich bin hier in Sizilien, um mich zu informieren, wie Italien mit den geflüchteten Kindern und Jugendlichen umgeht und was das eventuell auch mit Deutschland zu tun hat. In Italien sind 92 Prozent der minderjährigen Geflüchteten auf eigene Faust unterwegs, in der Fachsprache „unbegleitet“. In Deutschland ist das Verhältnis genau umgekehrt: Etwa 90 Prozent der geflüchteten Kinder sind mit mindestens einem Elternteil gekommen. Von den unbegleiteten Jugendlichen, die derzeit in Italien sind, wollen einige nach Deutschland, weil sie hier Familie und Freunde haben. Doch die Behörden schaffen es schon seit Monaten nicht, die Familien zusammenzuführen.
Im Asante-Zentrum teilen sich jeweils drei Jungen eine kleine Wohnung mit Bad. Auf den Fluren und unter den Bewohnern, denen wir begegnen, herrschen eine gelassene Stimmung und ein freundlicher Umgangston.
Botschaft an die G7
Numu ist ein Macher. Gerade hat er an einem Workshop von UNICEF teilgenommen und gemeinsam mit zwei anderen Flüchtlingen und italienischen Jugendlichen ein Video gedreht, das den G7-Vertretern und der Öffentlichkeit präsentiert werden soll.
Außerdem macht Numu gemeinsam mit einer „Kultur-Mediatorin“ aus dem Asante-Team ein Webradio für die Unterkunft: Radio Asante. Sofort nutzt er die Gelegenheit und interviewt mich und meine italienische UNICEF-Kollegin live als Studiogast für seine Sendung.
Neben dem Web-Radio bietet das Zentrum interessierten jungen Männern unter anderem auch eine Weiterbildung als Pizzabäcker an. Zehn von ihnen sind bereits für dreimonatige Praktika in Pizzerien in Palermo angemeldet. Sie werden dort sicher einen guten Job machen – die Pizza, die wir mittags serviert bekommen, schmeckt ausgezeichnet.
Auch wenn die Stimmung beim Mittagessen gut ist und einige tatsächlich Hoffnungen auf eine Pizzabäckerkarriere hegen mögen – es ist den Jugendlichen anzumerken, dass sie nicht genau wissen, was aus ihnen werden soll. Keine Seltenheit in diesem Alter. Aber die Vorgeschichte, die Jungen wie Numu haben und die Tatsache, dass sie sich in einer fremden Umgebung mit einer fremden Sprache und Kultur befinden, macht die Aussichten nicht rosiger.
Dennoch gewinnen wir in diesem Zentrum den Eindruck, dass sich Haupt- und Ehrenamtliche stark um die Jugendlichen kümmern und für sie einsetzen.
Der Kampf gegen Menschenhandel
Am Abend treffe ich Salvo Danielle, einen Psychologen, der das Zentrum „La Violetta“ für weibliche unbegleitete minderjährige Flüchtlinge betreut. Immer freitags macht er die Erstbefragungen mit den Mädchen und verweist sie dann gegebenenfalls weiter an psychologische Dienste.
Die meisten Mädchen kommen vom Land. Sie stammen aus Nigeria, Eritrea, Gambia und anderen meist westafrikanischen Ländern. Ihre Eltern werden überredet, sie nach Europa zu „verkaufen“, weil sie dort ein besseres Leben und Arbeit erwarten und sie Geld zurücksenden könnten. Viele von ihnen sind vom ersten Moment an in der Hand von Menschenschmuggler-Ringen.
Wenn sie in Sizilien ankommen, rufen sie die Telefonnummer an, die sie in Libyen erhalten haben, und verschwinden aus den Flüchtlingseinrichtungen. Wohin, kann Salvo nicht sagen. Er sagt, er suche nach einem Weg, die Mädchen zu überzeugen, dass sie jetzt frei seien und ein neues Leben beginnen können – wenn sie die Nummer nicht wählen. Aber natürlich seien die Bindungen an die Familie für die allermeisten viel zu stark und sie könnten sich gar nicht vorstellen, was sie mit der Freiheit anfangen sollten. Bei den meisten Mädchen sei außerdem der Aberglaube beziehungsweise die Vorstellung, dass Geister oder Dämonen sie befallen könnten, äußerst ausgeprägt. Und nicht zuletzt würden die Schleuser oft die Eltern der Mädchen bedrohen, wenn die nicht parierten.
Leben im Wartezustand
Wir fahren nach Portinica, etwa 40 Kilometer außerhalb von Palermo, ein verschlafener kleiner Ort am Meer, und besuchen eine weitere Unterkunft für männliche Unbegleitete. Carlo, der Heimleiter, ist ein sehr aufgeschlossener, lässiger Typ mit Lederjacke und einem Hintergrund sowohl als Pädagoge als auch als Polizist. Die Unterkunft bietet maximal 50 Bewohnern Platz. Derzeit sind es 41.
Einige wenige Jungen aus Westafrika sind wach. Die meisten schlafen noch oder wieder. Zwei sehen fern, drei spielen gemeinsam auf einem Handy, einer sitzt in der Küche und lernt mit einer Betreuerin. „Sempre studia“, sagt Carlo: „Er lernt ständig.“ Das Diskussionsthema Nummer Eins der Jungen ist das TV-Duell zwischen den französischen Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron und Marine Le Pen am vorangegangenen Abend. Sie sind sichtlich verärgert über die Aussagen von Le Pen und hoffen, dass sie die Wahlen nicht gewinnt. Es ist der 4. Mai und ich würde mir wünschen, diese Jungen am Abend der Stichwahl zu erleben.
Im Foyer hängt ein Zettel, der in verschiedenen Sprachen klar macht: Die Wartezeit für eine Anhörung im Asylverfahren beträgt mindestens acht bis neun Monate - so lange seid Ihr hier im Wartezustand.
Es ist das Warten, das die jungen Männer zermürbt und manchmal auch aggressiv macht. Und das sie letztlich oft wieder aus dem vermeintlichen Paradies vertreibt, weil sie davon ausgehen, dass sie in Frankreich, Großbritannien, Deutschland oder Holland, wo sie Anschluss an Familie und Freunde haben und vielleicht sogar schon die Sprache beherrschen, einfach wesentlich mehr Chancen auf ein gutes Leben haben.
Allerdings werden die meisten, die sich auf den Weg nach Norden machen, von der Grenzpolizei aufgegriffen und dann wieder zurückverfrachtet nach Italien. So wird die erste Station in Europa ein Paradies ohne Ausgang.
Chief aus Nigeria
Im dritten Zentrum, das ich besuche, ist die Stimmung am Boden. Die Erstaufnahmeeinrichtung macht schon vom ersten Augenblick an einen wesentlich weniger freundlichen Eindruck als das Zentrum Asante oder das in Portinica, obwohl es „Porta Felice“ heißt, nach dem berühmten Stadttor von Palermo „Pforte des Glücks“.
In diesem Zentrum wohnen etwa 15 Jungen in einer zur Gemeinschaftsunterkunft umfunktionierten großen Wohnung. Mit einem der Jungen, ein 17-Jähriger aus Nigeria, komme ich etwas ins Gespräch. Er nennt sich „Chief“, erzählt, dass er seit sechs Monaten in der Unterkunft ist und sehr „gestresst“ und frustriert ist. Nichts gehe vorwärts, ein Tag vergehe wie der andere und es gebe nichts zu tun. Lediglich eine Sprachschule könne er montags bis freitags besuchen. Er habe keine Dokumente und warte nun schon ein halbes Jahr darauf, endlich wenigstens einen Anhörungstermin zu bekommen. Ein zweiter Jugendlicher, ebenfalls aus Nigeria, ergänzt, dass sie es leid seien, ständig Fragen beantworten zu müssen nach ihrer Geschichte, ihrer Situation und ihren Plänen. Nichts ändere sich.
„Chief“ setzt sich an den Computer und öffnet seinen Facebook-Account. Da ist eine Nachricht von einem der Mitbewohner des Zentrums. Vor wenigen Tagen ist der Junge, auch er aus Westafrika, einfach zur Tür hinausgegangen. Er hatte genug vom Warten. Jetzt schreibt er auf Facebook, er sei nun in Paris, bei seinen Eltern. „Chief“ liest die Nachricht sehr aufmerksam durch und man sieht ihm an, dass er daran denkt, es seinem Mitbewohner gleichzutun.
Als ich Sizilien wieder verlasse, wird mir ein weiteres Mal klar: Wenn die G7, die Europäische Union und vor allem die Regierungen der betroffenen Staaten sich nicht bald um Jugendliche wie Numu und die anderen kümmern, werden ihre und auch unsere Schwierigkeiten als europäische Gesellschaften in den kommenden Jahren nicht kleiner werden.