Was geht, Alter?
75 Jahre Grundgesetz ohne Kinderrechte
Am nächsten dran, die Kinderrechte ins Grundgesetz zu bringen, war vielleicht Paul, damals elf Jahre alt, im November 2012.
Am nächsten dran, die Kinderrechte ins Grundgesetz zu bringen, war vielleicht Paul, damals elf Jahre alt, im November 2012. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen zum internationalen Tag der Kinderrechte ins Kanzleramt eingeladen. Paul ließ die Kanzlerin nicht vom Haken, fragte immer wieder nach, warum das Grundgesetz weiter ohne Kinderrechte auskommen solle. Frau Merkel sagte schließlich, sie werde das Thema „in meinem Herzen wägen“.
Etwa zweieinhalb Jahre zuvor, zu Beginn der Kanzlerschaft Merkels, stand ich am Jahrestag des Deutschen Grundgesetzes an einer Tafel aus Plexiglas im Berliner Regierungsviertel. Das Denkmal mit den 20 Grundrechtsartikeln ist eine beliebte Station bei Stadtführungen – und war immer wieder auch Ziel politischer Aktionen, die entweder die Umsetzung des bestehenden Verfassungstextes oder seine Weiterentwicklung forderten.
Ich war damals noch recht frisch bei UNICEF. Wir appellierten mit den beiden großen nationalen Kinderrechtsorganisationen, dem Deutschen Kinderschutzbund und dem Deutschen Kinderhilfswerk, an die Bundesregierung, sie möge die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Rechte von Kindern im Grundgesetz erscheinen. „Kinderrechte ins Grundgesetz!“ war unser Slogan. Und ist es bis heute.
Dieses Jahr wollten wir wieder an die Plexiglaswand ziehen, zum 75. Geburtstag eines als Verfassungsprovisorium gestarteten Gesetzes, das sich nach der deutschen Wiedervereinigung als rechtliches Bindemittel für 16 Länder, den Bund und mehr als 10.000 Kommunen bewährt hat – und für die Bevölkerung dieses Landes die wahrscheinlich stärkste gemeinsame Identifikationsfläche ist. Die Polizei hat uns dafür jedoch keine Genehmigung erteilt. Während der Feierlichkeiten und des „Staatsaktes“ zum Grundgesetz-Jubiläum ist am 23. Mai rund um das Reichstagsgebäude jegliche Form von Protest verboten.
2009 war die Welt noch eine andere. Ich war begeistert, nach einigen Jahren als Printjournalist den Einstieg in einen Beruf gefunden zu haben, in dem ich manches, das in Kommentarspalten Kritik findet, vielleicht ändern könnte. Zum Beispiel, dass die Rechte von Kindern zu oft ignoriert werden, auch in Deutschland.
Die Kampagne lief großartig. In kurzer Zeit sammelten wie mehr als 50.000 Unterschriften. Zahlreiche Verbände schlossen sich der Initiative an. Die Bundeskanzlerin ließ Sympathie für das Vorhaben erkennen, die CDU-Familienministerin Ursula von der Leyen stellte sich hinter die Forderung.
Doch dann erreichte uns bei UNICEF Deutschland ein Brief von Wolfgang Schäuble, als Innenminister in Merkels Kabinett für Verfassungsfragen zuständig. Er empfahl uns, die Aktivitäten einzustellen, denn Kinder seien ja auch Menschen und damit Träger aller Grundrechte.
Danach wurde es, jedenfalls vorläufig, in der Union recht ruhig um das Thema. Das war der erste große Dämpfer.
Wie oft ist uns dieses Argument begegnet. Es beruht auf einem Missverständnis. Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1968, demzufolge Kinder Grundrechtsträger sind, hegt doch niemand mehr einen Zweifel daran, dass Kinder Menschen sind. Dass die 1989 verabschiedete UN-Kinderrechtskonvention eine Reihe neuer Rechte kodifiziert hat, die ganz allein Kindern zustehen, wird dabei übersehen.
Ja, Kinder sind Grundrechtsträger, aber das heißt nicht, dass Kinderrechte im Grundgesetz überflüssig wären.
Also ließen wir nicht locker. In den Legislaturperioden zwischen 2009 und 2017 organisierten wir Konferenzen, ein Fachsymposium im Bundestag, aktivierten den Verfassungsrechtsausschuss des Deutschen Anwaltsvereins, drehten Videoclips, schalteten eine große Zeitungsanzeige, gezeichnet von 100 Bundestagsabgeordneten und Prominenten von Fatih Akin bis Senta Berger, formulierten einen weiteren Aufruf, erneut getragen von einem breiten Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen. Und wir hatten Erfolg.
Der wie Wolfgang Schäuble inzwischen leider verstorbene FDP-Staatssekretär im Bundesjustizministerium Max Stadler sagte uns: „Wenn wir den Tierschutz im Grundgesetz haben, wie sollten wir da die Kinder nicht reinlassen?“ Die rechtspolitische Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag ermunterte uns: „Machen Sie weiter!“ Aufgeschlossen war auch der damalige Generalsekretär der CDU in Nordrhein-Westfalen und heutige Ministerpräsident Henrik Wüst.
Nach und nach fand die Forderung Eingang in die Wahlprogramme, 2017 erstmals in einen Koalitionsvertrag, den der zweiten Großen Koalition unter Kanzlerin Merkel. In der SPD kämpfte Bundesfamilien- und Jugendministerin Manuela Schwesig für die Verfassungsänderung, bevor sie als Ministerpräsidentin nach Mecklenburg-Vorpommern wechselte. Auch ihre Nachfolgerinnen Katarina Barley, Franziska Giffey und Christine Lambrecht nahmen den Faden auf, Lambrecht in Personalunion als Bundesjustiz- und Bundesfamilienministerin.
Trotzdem blieb die Grundgesetzänderung aus. Nachdem wir zu Beginn der großen Koalition 2017 und 2018 geduldig auf die Ergebnisse einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe für ein „Kindergrundrecht“ gewartet hatten, die Monat um Monat hinter verschlossenen Türen diskutierte, lud das Netzwerk von zivilgesellschaftlichen Organisationen für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland Abgeordnete verschiedener Fraktionen zu einem Hintergrundgespräch ein.
Wir wollten von ihnen erfahren, wo es hakte. Inhaltliche Erklärungen gab es nicht. Aber dass diese Grundgesetzfrage in der Koalition keine große Rolle spielte, wurde allen Anwesenden deutlich.
Doch die eigentliche Zurückweisung der Kinderrechte kam und kommt nicht aus der Mitte der Gesellschaft oder aus der Mitte des Parlaments.
Das wurde mir im Februar 2020 bewusst. In diesen Tagen vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie in Deutschland diskutierten zwei Verfassungsrechtler und ich nicht sehr weit entfernt von der erwähnten Plexiglastafel vor einem äußerst skeptischen Publikum die Sinnhaftigkeit einer Grundgesetzänderung zugunsten von Kindern. In einer der vorderen Reihen saß der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen, damals noch Mitglied im „Berliner Kreis“ der CDU.
Es war spürbar, dass hier ein sehr konservativer Zirkel ein Skandalthema witterte. Die Rechte von Kindern dürfen niemals über den Rechten der Eltern stehen, klang heraus.
Dass die Rechte von Eltern durch die Stärkung der Kinderrechte leiden würden, war und ist nach dem „Kinder sind schon Menschen“ das zweite Argument, das immer wieder neu bemüht wird. Ein ebenso schwaches Argument, weil die Rechte des Kindes den Staat adressieren und Eltern davon ganz genauso profitieren.
Bildlich gesprochen: Wenn das Kind aus der Haustüre geht, soll es ja weiterhin in seinen Rechten geschützt bleiben – in der Kita, in der Schule, im Straßenverkehr, im Krankenhaus, im Sportverein usw. Wie sollen das die Eltern alleine gewährleisten?
Doch trotz dieser Zurückweisungen blieben wir optimistisch. Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD galt, und im Dezember 2020 einigte sich das Kabinett tatsächlich auf eine Formulierung. Sie war eine Enttäuschung, weil sie hinter den Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention zurückblieb. Vor allem aber lief die Zeit davon, um eine verfassungsändernde Mehrheit und – genauso wichtig – eine möglichst breite Einigkeit der großen Parteien zu gewinnen.
Im Mai 2021 lud der Rechtsausschuss im Bundestag zu einer Anhörung zum Gesetzentwurf der Großen Koalition. Ein denkwürdiges Ereignis, weil nach all den Jahren auch konservative Verfassungsexperten zu verstehen schienen, warum eine Änderung des Grundgesetzes für Kinder Sinn machen würde. Doch die Wochen verstrichen, Ideen für Kompromisse zwischen CDU/CSU, SPD und Grünen versandeten, der Wahlkampf 2021 nahte.
So verspielte die Bundespolitik trotz der einschneidenden Erfahrungen, schlimmen Folgen und sich abzeichnenden Lehren aus dem Umgang mit der Corona-Pandemie diese Chance, die Rechte von Kindern in Deutschland besser abzusichern.
Ganz eindeutig sieht es übrigens der Souverän.
Das Statistische Bundesamt wies für 2022 aus, dass eine überwältigende Mehrheit der Wahlberechtigten in Deutschland sich für Kinderrechte im Grundgesetz ausspricht: 84 Prozent. Warum folgt die Politik hier nicht Volkes Wille und Volkes Stimme? Hat sich das Thema Zweidrittelmehrheit wirklich erledigt?
Nach den Jahren der Beschäftigung mit dem Thema, und gerade mit den Befunden einer von ihrer Ohnmacht gegenüber Corona, Krieg und Klimakrise teils deprimierten jungen Generation, sollten wir nun doch dafür sorgen, dass das Grundgesetz nicht zur Insel der Bewahrung einer vergangenen Zeit wird, eine Insel aus Granit, um die herum der Strom der Zeit fließt und die darin langsam untergeht. Fortschritt muss auch für das Grundgesetz erlaubt sein. Es schützt die Würde aller Menschen und sollte auch alle Rechte der Kinder schützen.
Paul, der die Kanzlerin so forsch und wach befragt hatte, blickt 32 Jahre nach Inkrafttreten der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland mit gemischten Gefühlen auf das Thema. Er schreibt mir, dass er nach der für junge Menschen besonders harten Corona-Pandemie nun Politikwissenschaften studiert. Es sind zwölf Jahre vergangen.