Meinung

“Man ist ständig auf dem Weg!”


von Autor Kerstin Bücker

Zum 60. Geburtstag von UNICEF Deutschland

Was hat die Menschen bewegt, die vor 60 Jahren UNICEF Deutschland gegründet haben – was hat sich seitdem geändert, was ist vielleicht aber auch gleich geblieben?

Im Geburtstagsmonat Juni stellen wir Ihnen zehn Menschen vor, die sich auf ganz unterschiedliche Weise für UNICEF engagieren: Ehrenamtliche, prominente UNICEF-Paten, Mitarbeiter in Entwicklungsländern oder Jugendliche. Jedem von ihnen stellen wir sechs Fragen – das macht in den nächsten Wochen genau 60 spannende Antworten.

Am 6. Juni lesen Sie das erste Interview, ab dann lernen Sie alle paar Tage neue UNICEF-Unterstützer kennen. Als Auftakt zur Interviewserie erfahren Sie aber zunächst ein Stück persönlich erlebte UNICEF-Geschichte – vermittelt durch einen handgeschriebenen Brief.

Ehrenamtliche bei UNICEF: Irmgard von Lehsten (© Irmgard von Lehsten)

Seit Jahrzehnten ehrenamtlich engagiert für UNICEF: Irmgard von Lehsten.

© Irmgard von Lehsten

Die heute 94-jährige Irmgard von Lehsten hat ihn mir geschickt. So eine Nachricht habe ich schon lange nicht mehr erhalten– und schon gar keine so sorgfältig zu Papier gebrachte. „Liebe Frau Bücker“, schreibt Frau von Lehsten, vermutlich die älteste der UNICEF-Ehrenamtlichen. „Ein so langes Leben ist reich – inclusive allen Schweren während des Krieges!“ Dann folgen zwölf eng beschriebene Seiten, voller spannender, berührender und auch trauriger Erlebnisse. Sie nimmt mich mit auf eine ganz persönliche Zeitreise, angetrieben von einem leidenschaftlichen Engagement für Kinder.

Milch und Lebertran

„Mein Sohn bekam in Hamburg 1948 in der Schule täglich einen Becher Milch und einen Löffel Lebertran. – schmeckte scheußlich, war aber wichtig!“ Heute ist dieser, der älteste, Sohn 73 Jahre alt. In Irmgard von Lehstens Beschreibungen kann ich ihn mir gut als Achtjährigen vorstellen, in einer Klasse mit 60 ausgezehrten, ängstlichen Nachkriegskindern. UNICEF war zwei Jahre zuvor von den Vereinten Nationen gegründet worden, um Kindern in den vom Krieg zerstörten Ländern zu helfen. „UNICEF fragte nicht nach Rasse, Ideologie, Religion – bis heute – und das war für uns, für mich, ein ungeheures Erlebnis, dass ein Feindes- und Siegerland eine so großzügige Friedensinitiative ergriff.“ Im gleichen Jahr malte das Mädchen Jitka aus der Tschechoslowakei UNICEF mit einer selbstgemalten Karte für die erhaltene Hilfe – die UNICEF-Grußkarte war geboren. Heute sind die Deutschen Weltmeister im Schreiben von UNICEF-Grußkarten – und das ist nicht zuletzt der UNICEF-Gruppe Hamburg und ihrer langjährigen Leiterin Irmgard von Lehsten zu verdanken.

Erste UNICEF-Grußkarte (© UNICEF)

Ein kleines Mädchen aus einem böhmischen Dorf malte UNICEF als Dankeschön für die erhaltene Hilfe ein Bild – die erste Grußkarte war geboren. In 50 Jahren wurden allein in Deutschland über 500 Millionen UNICEF-Grußkarten verkauft.

© UNICEF

Von „Apothekenware“ und einem Wasserrohrbruch

Mit einfachen Mitteln wird 1953 in Köln das Deutsche Komitee für UNICEF gegründet – die erste Ausstattung besteht aus einem Schreibtisch im Büro eines Ministers in Bonn. Im ersten Jahr werden exakt 7.070 Grußkarten verkauft. In Hamburg beginnt alles 1962, in einem Raum in einem zum Abriss geplanten Haus ohne Strom und Heizung. Von hier aus organisiert die erste Leiterin Dorothea Warburg mit drei Freundinnen den Kartenverkauf. Zwei Jahre später kommt der Postbote: „Frau Warburg, gegenüber im Esplanadebau wird ein halbes Zimmer frei, das niemand gebrauchen kann. Das wär doch was für Sie!“ In dieser Zeit stößt auch Irmgard von Lehsten zu den Hamburger Frauen und stürzt sich in die Organisation des Grußkartenverkaufs – zum Beispiel in Apotheken, die Kommissionsware von UNICEF abnahmen. „Wir waren Pioniere – und Pionier-Arbeit ist faszinierend“, sagt die gebürtige Rostockerin. „Wir waren alle gut organisierte Hausfrauen, von den schweren Kriegserlebnissen geprägt und darum tief engagiert, uns für Frieden und gegen die Not – besonders der Kinder – einzusetzen.“ Sparsamkeit wird groß geschrieben: Die technischen Hilfsmittel der UNICEF-Gruppe Hamburg sind zwei ausgemusterte Schreibmaschinen. Ein pensionierter Buchhalter schreibt alle Zahlen aus dem Grußkartenverkauf handschriftlich in ein großes Journal mit „Soll“ und „Haben“. Als ein Wasserrohrbruch das Grußkartenlager im Heizungskeller unter Wasser setzt, werden die kostbaren Karten mit dem Bügeleisen getrocknet.

Engagement für Kindersoldaten und Bundesverdienstkreuz

Schließlich übernimmt Irmgard von Lehsten die Leitung der UNICEF-Gruppe Hamburg. Sie setzt eine bezahlte Bürokraft durch, engagiert sich im neu gegründeten Beirat der Arbeitsgruppen, trifft internationale UNICEF-Mitarbeiter, deren Engagement in Entwicklungsländern sie tief beeindrucken. Die UNICEF-Gruppe Hamburg verkauft mittlerweile pro Jahr Grußkarten im Wert von einer Million D-Mark. 1984 erhält sie für ihren Einsatz das Bundesverdienstkreuz. Die UNICEF-Arbeit ist längst mehr als karitatives Engagement: 1989 verabschieden die Vereinten Nationen die „UN-Konvention über die Rechte des Kindes“, bis heute wegweisend für die UNICEF-Arbeit. Die Mauer fällt. Irmgard von Lehsten organisiert in Hamburg-Blankenese eine Ausstellung über Kindersoldaten und diskutiert mit jungen Flüchtlingen aus Sierra Leone. Im Hamburger UNICEF-Büro werden Computer eingeführt – und die mittlerweile 70-Jährige entscheidet sich, die Leitung in jüngere Hände abzugeben. Doch ihr Einsatz hört damit nicht auf.

Ist Namibia „durch“?

1999 reist sie – mittlerweile fast 80-jährig – auf eigene Kosten nach Namibia und besucht von UNICEF unterstützte Programme zu Wasser und HIV/Aids. Nach 16 Jahren Krieg spielt UNICEF hier eine wichtige Rolle für den Wiederaufbau. „Wir waren in Schulen, in denen Jugendliche als Grundschüler saßen, was ihnen peinlich war – aber sie durften ja früher nie zur Schule gehen!“ Sie sieht an AIDS erkrankte Sterbende, macht Anti-AIDS-Seminare mit, erlebt, wie ein einziger Brunnen ein ganzes Dorf verändert. Sie sieht aber auch, dass nicht alle Entwicklungsprojekte sinnvoll sind. Nach der Rückkehr will sie ihre Erfahrungen teilen, einen „Friedensbericht“ schreiben. Doch für die Redakteurin einer Hamburger Zeitung ist Namibia „durch“. Für Irmgard von Lehsten unverständlich: „Wo ist denn wirklich Frieden? Kongo, Mali, Syrien – was UNICEF hier leistet, ist doch kaum zu fassen! Es betrifft Abertausende von Kindern, Müttern, Familien – und immer klappt trotz aller Widrigkeiten der Nachschub für Impfungen, Grundnahrung, Hygiene, Spielzeug, Schule… Bewunderungswürdig!“ Besonders überzeugend findet sie, dass UNICEF seine Konzepte immer wieder hinterfragt und verändert: „Man ist ständig auf dem Weg!“

Namibia: Irmgard von Lehsten besucht das UNICEF-Wasserprogramm (© Irmgard von Lehsten)

Namibia, Dorf Katima Mulilo: Irmgard von Lehsten beim Besuch des UNICEF-Wasserprogramms.

© Irmgard von Lehsten

Wie ein Mosaikstein der Hilfe

Ihre Erfahrungen trägt Irmgard von Lehsten – mittlerweile mehrfache Urgroßmutter – in den 1990er Jahren und Anfang der 2000er Jahre vor allem in Schulen in den Neuen Bundesländern. Sie spricht in Gotha oder Gera mit Schülerinnen und Schülern über Kinderrechte, diskutiert in der Oberstufe über HIV/Aids und Partnerschaft. “Ich wollte die Jugendlichen nach dem ‚coolen‘ Gespräch über Sex so nicht entlassen, sondern ihnen vermitteln, dass über Sex die Erotik steht, die gepflegt werden muss. Es gab immer größte Aufmerksamkeit – und Dank der Lehrer!“ Sie geht in eine Schule für straffällig gewordene Kinder, eine Einrichtung für behinderte Kinder, die Fachoberschule für Sozialpädagogik, „ganz normale Schulen, mit Klassen, in denen zur Hälfte Scheidungskinder sitzen. 2004 – mit 85 Jahren – verabschiedet sie sich von allen Ämtern. Im Hamburger Rathaus erhält sie die höchste Ehrung der Stadt. „Im Rückblick war es ein reiches Leben, in das alles Schwere der Kriegszeit, das ich durchstehen musste, mit eingeschlossen ist, ohne das ich die Arbeit für UNICEF nicht so engagiert hätte machen können, da ich ja laufend mit dem Elend der Welt konfrontiert war – aber als ‚Mosaikstein‘ in der Hilfe mit eingeschlossen war.“

Neue Blog-Reihe: Mein UNICEF

Am 6. Juni startet die Blog-Serie zum 60. Geburtstag von UNICEF Deutschland „60 Jahre – 60 Fragen und 10 x 6 persönliche Antworten“. Die ersten 6 Fragen beantwortet UNICEF-Mitarbeiterin Angela Griep aus dem UNICEF-Länderbüro im westafrikanischen Sierra Leone. Lernen Sie in den kommenden Wochen insgesamt zehn engagierte UNICEF-Unterstützer kennen – viel Spaß beim Lesen!

Ehrenamtliche, Kinder und Jugendliche, Prominente, Spender und Mitarbeiter aus Projektländern (© UNICEF)
© UNICEF

Irmgard von Lehsten ist eine UNICEF-Ehrenamtliche der ersten Stunde. Wann sind Sie zum ersten Mal mit UNICEF Deutschland in Berührung gekommen? Berichten Sie uns in den Kommentaren von Ihrer ersten Begegnung und Ihrem Einsatz für Kinderrechte.

Übrigens

Im Geburtstagsjahr wünschen wir uns 10.000 neue UNICEF-Paten, die dauerhaft Kindern in Not helfen – sind Sie schon dabei?

Hier finden Sie alle anderen UNICEF-Geschichten zum 60. Geburtstag.

Kerstin Bücker
Autor*in Kerstin Bücker

Kerstin Bücker leitet den Bereich Kommunikation und Kinderrechte bei UNICEF Deutschland.