Zu Besuch bei „Little Ly“: Die Geschichte hinter dem Foto des Jahres
Angela Rupprecht ist die Projektleiterin des "UNICEF-Foto des Jahres". Seit 20 Jahren zeichnet der internationale Fotowettbewerb renommierte Fotoreportagen aus. Im Fokus stehen Kinder aus der ganzen Welt.
In diesem Blogbeitrag erzählt Sie von einem vietnamesischen Mädchen, das über Nacht eine kleine Berühmtheit wurde. Angela Rupprecht hat sie 2011 in ihrem Heimatland besucht.
Ein Siegerbild, das durch die Medien geht
Liebe Leserinnen, liebe Leser, vielleicht erinnern Sie sich noch an die „kleine Ly“, wie ich sie gerne nenne? Bei unserem Wettbewerb „UNICEF-Foto des Jahres“ wurde 2010 das Bild des US-Fotografen Ed Kashi zum Siegerbild gekürt. Es zeigt die damals zehnjährige Ly aus Vietnam. Das Bild ist Teil einer Fotoreportage, die sich mit Kriegsfolgen des südostasiatischen Landes seit Ende des Vietnamkriegs 1975 befasst.
Das „UNICEF-Foto des Jahres 2010“ ging um die Welt. In Vietnam bekam ein Teil der alten Geschichte frischen Erzähl-Wind. Auf zahlreichen Webseiten und in der gedruckten Tagespresse wurde über die Auswirkungen der eingesetzten Giftgase während des Vietnamkrieges auch in dritter Generation debattiert. Als Auslöser und Symbolbild dafür stand das Schicksal des Mädchens Ly.
Beim Echo der Auszeichnung allein sollte es nicht bleiben: Ed Kashi, der Fotograf, schickte mir im Frühjahr 2011 folgende schöne Nachricht: „Our little Ly won the World Press Photo Award“. Der World Press Photo Award ist einer der weltweit berühmtesten Auszeichnung für Fotojournalismus. Wir freuten uns alle gemeinsam. Ich hatte mich viel mit Ed Kashi unterhalten – über das Mädchen und wie er dazu kam, ihre Geschichte in Vietnam zu fotografieren. Wir nennen sie beide seither gerne unsere „Little Ly“.
Auf nach Vietnam: Eine Reise zu Ly
Wir alle fragten uns, wie wohl die „kleine Ly“ und ihre Familie mit den Auszeichnungen und der Berichterstattung zurechtkamen. Immerhin hatten wir da ganz schön etwas ins Rollen gebracht! Es traf sich nur allzu gut, dass ich ohnehin plante im April 2011 nach Vietnam zu reisen. Für mich war direkt klar, dass ich Ly und ihre Familie dann besuchen würde. Wir – ich spreche nun von meiner Tochter und mir – wollten das Mädchen unseres Siegerfotos 2010 während unserer Vietnamreise besuchen, um sie, ihre Familie und ihr Lebensumfeld persönlich kennen zu lernen.
Eine besondere Begegnung
Am Tag des geplanten Treffens mit Ly, fuhren wir früh morgens nach Da Nang, im Zentrum Vietnams. Dort trafen wir zuerst Mitarbeiter der Organisation Children of Vietnam, die uns begleiten sollten. Gemeinsam fuhren wir mit den beiden Mitarbeitern – die auch für uns dolmetschten – zum kleinen Haus der Familie.
Dann stand sie nun vor uns, die die wir sie so intensiv von dem Foto her kannten. Die uns via Bild in ihren Bann gezogen hatte. Über deren Schicksal wir berichten durften. Ein wenig schüchtern stand sie da, zart, beinahe verletzlich, sich hinter den Beinen ihrer Mutter Thu anlehnend. Sie beobachtete uns. Wir hatten genügend Zeit für ein Kennenlernen mitgebracht.
Wir setzten uns mit ihrer Mutter und den freundlichen Begleitern auf die in Vietnam typischen – für Europäer unglaublich niedrigen – Plastikstühle, an einen ebenso niedrigen Plastiktisch. Wir unterhielten uns zunächst also unter Erwachsenen. Bis die „kleine Ly“ langsam, aber neugierig näherkam. Sie registrierte mit freudigem Augenleuchten, dass wir kleine Geschenke für sie mitgebracht hatten. Haarklammern und eine rosa Kette. Außerdem ein Memory. Wir versteckten die Mitbringsel erst einmal in den Händen hinter unserem Rücken. Ly sollte wählen, welche Hand sie zuerst möchte. Scherzend brach das Eis.
Wir blieben einen vollen Nachmittag: Spielten gemeinsam, lachten gemeinsam, staunten uns gegenseitig an und näherten uns Stück für Stück.
Ly ist ein inzwischen elfjähriges Mädchen, das sich gerne hübsch zurechtmacht und sich schön kleidet. Sie zeigte uns ihre Zeichnungen und führte uns schüchtern, zugleich stolz vor, dass sie ein wenig Englisch singen und sprechen kann.
Eins fiel uns direkt auf: Ly war nicht traurig oder resigniert – ganz und gar nicht. Sie war trotz ihres gesundheitlich schwierigen Zustandes und der existentiellen Armut ihrer Familie fröhlich, lebendig, voller Humor und Lebensfreude!
Ich hatte Ly einige der internationalen Zeitungsausschnitte mit ihrem Foto mitgebracht und gezeigt. Das hat sie erstaunt und gleichzeitig sehr gefreut. Daraufhin habe ich ihr in Ruhe gezeigt, wie eine Kamera mit Objektiv und Sucher funktioniert. So verstand sie, wie sie und andere auf ein Foto kommen. Am Ende fotografierte sie uns.
Je länger wir mit ihr zusammen sein durften, desto offensichtlicher wurde, dass dieses kleine Mädchen an diesem so vielfach preisgekrönten Foto ihren eigenen Anteil hat – durch ihr Wesen, ihre Lebensfreude ihre ganz persönliche Art. Eingefangen von einem herausragenden Fotografen.