Explosion in Beirut: "Jugendliche helfen jetzt beim Wiederaufbau"
Nach der verheerenden Explosion in Beirut läuft die Hilfe für Kinder und ihre Familien auf Hochtouren. UNICEF-Nothelferin Rahel Vetsch ist in Beirut im Einsatz. Hier hält sie uns über die Situation in der Hauptstadt des Libanons auf dem Laufenden.
"Viele Kinder müssen das Erlebte noch verarbeiten" (8. September 2020)
"Auch gut einen Monat nach der Explosion stehen die Menschen unter dem Eindruck der Ereignisse. Tausende Menschen wurden verletzt und mussten behandelt werden. Die medizinische Versorgung ist jetzt in vielen Fällen abgeschlossen, die Nachfrage nimmt stetig ab, nicht aber der Bedarf an psychologischer Betreuung. Auch viele Kinder weisen Stresssymptome auf, haben Angstzustände und Albträume. Solche Stresssymptome lassen bei Erwachsenen nach spätestens vier bis sechs Wochen nach dem Ereignis nach. Bei Kindern kann dies länger dauern.
Kinder müssen nach einem Ereignis wie der Explosion schnell wieder Struktur in den Alltag bekommen. Dabei helfen unsere Anlaufstellen, die wir mit Partnerorganisationen eingerichtet haben. Dort können die Kinder vorbeikommen, spielen und Freunde treffen. Für ältere Kinder bieten wir ein Sportprogramm an. All das hilft, das Erlebte zu verarbeiten. Eine Kollegin erzählte mir neulich, dass sie Kinder selten so ausdauernd spielen sehen hat.
Wir sind weiterhin dabei, Kliniken und Gesundheitszentren wiederherzurichten, darunter auch eine Neugeborenen-Station in unmittelbarer Nähe zum Unglücksort, die durch die Explosion zerstört worden war. Außerdem haben wir tonnenweise Schutzausrüstung ins Land gebracht, damit sich Gesundheitshelfer vor Covid-19 schützen können. Die Zahl der Corona-Fälle ist im Libanon in den vergangenen Wochen bedrohlich gestiegen, zuletzt hatten wir Rekordzahlen von mehr als 600 Neuinfektionen pro Tag. Jugendliche, die UNICEF mobilisieren konnte, nähen Masken für die Bevölkerung und verteilen sie.
UNICEF hat in den vergangenen Jahren verschiedene Berufsbildungs-Projekte durchgeführt, an denen viele Jugendliche teilgenommen haben. Jetzt helfen sie beim Wiederaufbau und bekommen dafür einen Lohn, der sie etwas unterstützt. Viele von ihnen leiden unter der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise hier im Libanon. Die Jugendlichen helfen, zerstörte Wassertanks auszutauschen und beschädigte Häuser wieder bewohnbar zu machen. Bis der Winter kommt, müssen diese Arbeiten abgeschlossen sein.“
Diese Hilfsgüter werden jetzt benötigt
"Noch immer hört man viele Sirenen" (13. August 2020)
"Gut eine Woche nach der Explosion ist die Notversorgung der Kinder in Beirut sichergestellt. Viele Krankenhäuser und Gesundheitsstationen, die beschädigt wurden, sind zumindest so weit wieder hergerichtet, dass sie die Menschen behandeln können. Wir haben erste Hilfsgüter wie Tetanus-Impfungen, Nothilfe-Sets und COVID-19-Schutzausrüstungen für Gesundheitshelfer ins Land gebracht. Andere Hilfsgüter wie Hygieneartikel, Masken, Zelte oder Spielzeug-Sets, die für die psychologische Erstbetreuung von Kindern zentral sind, haben wir für genau solche Situationen bereits hier im Lager.
Auch Spezialnahrung gegen Mangelernährung gehört zu den Hilfsgütern, die wir nun benötigen. Wir fürchten, dass viele Eltern, denen schon die Wirtschaftskrise im Land zusetzte, bei alltäglichen Ausgaben sparen werden, also auch beim Essen. Den ärmsten Familien wird mit kleinen Geldbeträgen geholfen, diese Unterstützung läuft nun an.
In der Stadt gehen währenddessen die Aufräumarbeiten weiter. Jugendliche, die dank UNICEF im vergangenen Jahr Zugang zu Berufsbildung erhalten haben, isolieren Fenster mit Planen, reparieren Türen oder installieren neue Wassertanks, damit sich die Menschen in ihrem zerstörten Zuhause halbwegs wohlfühlen können.
Noch immer hört man viele Sirenen der Rettungskräfte. Es herrscht große Bedrückung. Auch an den Kindern ist die Katastrophe nicht spurlos vorbeigegangen, das merken wir sehr deutlich. Der Schock sitzt tief, nicht nur bei denen, die während der Explosion im Zentrum und damit unmittelbar betroffen waren. Wir haben in der Stadt mehrere Zelte aufgebaut, die als Anlaufstellen dienen und in denen traumatisierte Kinder betreut werden.“
"Bei vielen Familien herrscht pure Verzweiflung" (7. August 2020)
Im Interview schildert UNICEF-Nothelferin Rahel Vetsch ihre Eindrücke vom Unglücksort in Beirut und erzählt, wie Kindern und ihren Familien im Libanon jetzt geholfen wird.
Wie haben Sie die vergangenen Tage im Libanon erlebt?
Vetsch: Ich kann noch immer nicht fassen, was hier passiert ist, und ich glaube, das geht vielen so. Das Ausmaß dieser Katastrophe ist enorm. Im Zentrum der Stadt, in der Nähe des Hafens, sieht es aus wie in einem Kriegsgebiet. Die wunderschönen alten Häuser, die das Stadtbild geprägt haben, liegen in Trümmern. Die Straßen sind voller Glassplitter. Autos, die dort geparkt waren, sind zerstört. Ich weiß von Kindern, die während der Explosion allein zu Hause waren, von Familien, die ihre Angehörigen nicht erreichen konnten. Plötzlich gab es diese enorme Explosion, von der niemand wusste, was es war. Viele dachten zuerst an einen Anschlag. Die Unsicherheit und Unwissenheit waren groß. Dass nicht noch mehr Menschen gestorben sind, grenzt für mich an ein Wunder.
Wie ist die Situation jetzt?
Vetsch: Bei vielen Familien herrscht pure Verzweiflung. Die wirtschaftliche Situation wurde in den vergangenen Monaten ohnehin immer schwieriger. Viele haben ihre Jobs verloren, das libanesische Pfund hat durch die Bankenkrise stark an Wert verloren, und die Höchstsumme, die sie vom eigenen Bankkonto abheben können, liegt bei 100 US-Dollar pro Woche. Durch die Explosion wurden viele Häuser so sehr beschädigt, dass dringende Reparaturen nötig sind. Viele Menschen, die sich hier etwas aufgebaut haben, können sich das nicht leisten. Ihnen droht, dass sie alles verlieren.
Welche Auswirkungen hat die Explosion auf Kinder in Beirut und im Libanon?
Vetsch: Wir schätzen, dass mindestens 80.000 Kinder direkt von den Auswirkungen dieser Katastrophe betroffen sind. Viele sind verletzt, traumatisiert, Familien haben ihr Zuhause verloren. Sie sind bei Verwandten untergekommen oder in Notunterkünften. Viele bleiben aber auch in den beschädigten Wohnungen.
Wie hat UNICEF unmittelbar nach dem Unglück reagiert?
Vetsch: Zuallererst haben wir sichergestellt, dass unser Team wohlauf ist. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen wohnen im am stärksten betroffenen Stadtteil und leider wurden einige verletzt oder haben gar Familienmitglieder verloren. Viele sind geschockt und müssen die Geschehnisse erst einmal verarbeiten.
Noch am Abend der Explosion haben Kolleginnen den Transfer von Impfdosen und Medikamenten aus schwer beschädigten Kühlkammern in noch funktionierende Kammern eines Warenlagers des Gesundheitsministeriums organisiert, um die Kühlkette sicherzustellen. 90 Prozent der Impfstoffe konnten so zum Glück gerettet werden. Wir unterstützten nun die Familienzusammenführung, bieten Hilfe über ein Nottelefon sowie psychosoziale Betreuung an. Familien, die in Notunterkünften wohnen, haben wir mit Wasser, Hygiene- und COVID-19-Sets versorgt, die unter anderem Seife, Zahnbürsten oder Masken enthalten.
Und wir haben uns bereits ein Bild davon gemacht, wie sehr das Wassernetzwerk, Gesundheitszentren und Schulen in der Umgebung betroffen sind. Nach jetzigem Stand müssen zwölf Gesundheitszentren, die bis zu 120.000 Personen dienen, und zahlreiche Schulen repariert werden.
Wie geht die Hilfe in den kommenden Tagen weiter?
Vetsch: Neben gesundheitlicher und psychosozialer Betreuung wird der Kinderschutz in den kommenden Wochen und Monaten von besonderer Bedeutung sein. Viele Familien werden jetzt noch stärker von Armut betroffen sein, was zur Folge haben kann, dass beim Essen gespart wird oder Kinder arbeiten gehen müssen, um ihre Eltern zu unterstützen. Dem müssen wir entgegenwirken. Zudem mobilisieren wir Jugendliche, die beim Aufräumen helfen, Essen zubereiten und verteilen und die Wasserbehörde bei der Wiederherstellung der Infrastruktur unterstützen. Gemeinsam mit unseren Partnern verschaffen wir uns jetzt einen genauen Überblick, wo Hilfe dringend nötig ist.
Was werden weitere große Herausforderungen sein?
Vetsch: Bislang haben wir im Libanon von einer dreifachen Krise gesprochen: Seit 2011 gibt es eine Flüchtlingskrise, seit Anfang dieses Jahres hat sich die Wirtschafts- und Bankenkrise immer weiter zugespitzt, und seit Februar gibt es die Covid-19-Krise. Jetzt kommen die Folgen der Explosion noch hinzu.
Insbesondere die Covid-19-Krise wird sich wohl verschärfen. Tausende Verletzte sind nach der Explosion in die Krankenhäuser gekommen, viele ohne Masken, daran denkst du in einer solchen Situation nicht. Die Zahl der Covid-19-Fälle ist in den Wochen vor dem Unglück extrem gestiegen, und wir müssen damit rechnen, dass die Fallzahlen nun noch weiter ansteigen. Dabei waren die Krankenhäuser ohnehin schon ausgelastet, und das Personal war bereits am Anschlag. Das Krankenhaus, in dem ein Großteil der Covid-19-Tests gemacht wurde, ist durch die Explosion komplett zerstört worden. Und im Hafen wurde eine ganze Ladung Schutzausrüstung vernichtet.
Helfen Sie den Kindern im Libanon
Nach der verheerenden Explosion in Beirut sind wir für die Kinder in der libanesischen Hauptstadt im Einsatz. Unterstützen Sie uns dabei mit Ihrer Spende und schicken Sie Hilfe zu den Kindern im Libanon. Vielen Dank!
Gibt es etwas, das Ihnen in den vergangenen Tagen Mut gemacht hat?
Vetsch: Ich erlebe hier eine enorme Solidarität. Als ich heute durch die Stadt gefahren bin, habe ich viele Menschen mit Maske und Besen gesehen. Viele davon wohnen nicht in den betroffenen Gebieten, aber sie kommen, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen. Viele Menschen haben Übernachtungsplätze angeboten, andere reparieren Autos zum Preis der Materialkosten. Menschen, die einander vorher nicht kannten, tauschen sich nun auf der Straße aus und wünschen alles Gute. Auch auf internationaler Ebene ist die bereits zugesprochene Unterstützung groß und wird extrem geschätzt. Es herrscht eine große Verzweiflung, aber es gibt eben auch diese Solidarität.