„Das geht mich nichts an, es ist schließlich nicht meine Familie.“
Laut Miriam ist das eine der häufigsten Reaktionen von Menschen, die Zeug*innen von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche werden. Nur wenige werden aktiv und greifen ein. Egal ob in der Öffentlichkeit, der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz, oftmals schauen Zeug*innen von Gewalt gegen junge Heranwachsende lieber weg.
Es ist ein kalter Herbsttag, an dem Miriam zu dieser ernüchternden Feststellung kommt.
Aber erst mal zurück zum Gesprächsanfang: Unter Einhaltung der derzeit geltenden Corona-Abstands- und Hygieneregeln treffe ich mich mit Miriam: Sie ist Diplom-Psychologin, arbeitet seit fünf Jahren in der deutschen Jugendhilfe und ist eine Expertin, wenn es um Themen wie Kinderschutz, Jugendhilfe und Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen geht. Mit ihr möchte ich mich auch vor dem Hintergrund der aktuellen UNICEF-Kampagne #niemalsgewalt zu den Themen Gewalt und Gewaltprävention austauschen.
Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Deutschland
Doch was bedeutet Gewalt überhaupt? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert sie in einem Bericht wie folgt: Gewalt ist der tatsächliche oder angedrohte absichtliche Gebrauch von physischer oder psychischer Kraft oder Macht, die gegen sich selbst oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft gerichtet ist und die tatsächlich oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt. Kurzgefasst: Es gibt viele verschiedene Formen von Gewalt, wie zum Beispiel körperliche und seelische Gewalt und schon ihre Androhung ist dem Gewaltbegriff zuzuordnen. Gewalt kann für Betroffene vielfältige körperliche, seelische oder sogar tödliche Folgen haben.
Meine Recherchen vor dem Gespräch mit Miriam ergeben außerdem, dass das Aufwachsen mit Gewalt in der Familie für viele Kinder in Deutschland leider die bittere Realität ist. Laut offiziellen Angaben des statistischen Bundesamtes (StBA) haben die Jugendämter in Deutschland im Jahr 2019 bei 55.500 jungen Heranwachsenden eine Kindeswohlgefährdung festgestellt und damit zehn Prozent mehr als im Vorjahr 2018. Die Anzahl der Kindeswohlgefährdungen stieg somit das zweite Jahr in Folge und erreichte 2019 einen traurigen neuen Höchstwert. Zwar wurde im Jahr 2000 ein allgemeines Züchtigungsverbot gegenüber Kindern ausgesprochen und somit ist Gewalt gegen Kinder und Jugendliche verboten und strafbar, denn: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.”(§ 1631 Abs. 2 BGB) Leider spiegelt die rechtliche Lage jedoch nicht immer die Realität wider.
Laut Miriam wird über Gewalt innerhalb von Familien viel zu selten gesprochen und wenn, dann oftmals unter Verwendung von Diminutiven und Euphemismen wie „ein Klaps auf den Po“, oder „gelegentliche Schläge“. Diese vagen und oberflächlichen Beschreibungen spiegeln jedoch nicht die reale Gewaltdynamik wider, der viele junge Heranwachsende tagtäglich ausgesetzt sind. Viele Menschen assoziieren mit dem Begriff „Gewalt“ Schläge oder das Anschreien der eigenen Kinder. Jedoch gibt es, wie bereits angesprochen, verschiedenste Gewaltformen mit vielfältigen und weitreichenden Folgen. Oftmals sind betroffene Kinder mehreren Gewaltformen gleichzeitig ausgesetzt und hilflos: Körperliche, psychische, sexuelle und verbale Gewalt, die Liste ist lang. Psychische Folgen wie Depressionen, Ängste und Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) werden oftmals komplett unter den Teppich gekehrt.
Wie wird den Betroffenen geholfen?
Welche Rolle in diesem Zusammenhang das Jugendamt spielt und wie von Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche unterstützt werden, auch darüber spreche ich mit Miriam. Sie erklärt, dass sich das Jugendamt als staatliche Institution für Kinder einsetzt, die verschiedenen Gefahrenfaktoren ausgesetzt sind oder Unterstützung brauchen. Gefahrenfaktoren können beispielsweise ein Leben in Armut, Drogen- oder Alkoholmissbrauch sowie Gewalt sein. Auch junge Heranwachsende mit Migrationshintergrund leben teilweise in Obhut des Jugendamts. Die rechtliche Handlungsgrundlage des Jugendamtes ist dabei auch der Paragraph 8a des Sozialgesetzbuchs (SGB). Er besagt, dass Erwachsene gesetzliche dazu verpflichtet sind eine Meldung beim Jugendamt zu tätigen, sollten sie vermuten, dass ein Kind in Schulen, Betreuungseinrichtungen oder zu Hause gefährdet ist oder Gewalt erlebt. Nur durch die Meldung kann der Hilfeprozess formal und praktisch eingeleitet werden und das betroffene Kind erhält die benötigte Hilfe. Grundsätzlich unterscheidet man zwei Formen der Hilfsmöglichkeiten: So gibt es sowohl ambulante als auch stationäre Maßnahmen. Zu den ambulanten Maßnahmen gehören Familientherapien, eine Beistandschaft für Eltern oder einfache Beratungsgespräche im Jugendamt. Zu den stationären Maßnahmen zählen Schutzstellen, sowie Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen. Bei Letzteren handelt es sich um Wohngruppen für Kinder, die aufgrund verschiedener Gefahren nicht zu Hause leben können.
Was kann man selbst als Zeug*in von Gewalt gegen Kinder tun?
Was mich außerdem brennend interessiert ist: Was kann man als Zeug*in von familiärer Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen tun? Wie kann man Hilfe leisten und die Betroffenen unterstützen? Hier stellt Miriam schnell klar, dass auf gar keinen Fall weggeschaut werden sollte und listet Hilfetelefone, Webpages und SMS-Chats für Betroffene auf. In einem Gespräch mit betroffenen Kindern oder Heranwachsenden, sollte das Gefühl vermittelt werden, dass der/die Betroffene nicht alleine ist und dass es zahlreiche Hilfs- und Unterstützungsmöglichkeiten gibt. Miriam fügt dem noch hinzu, dass Informationen zu Online-Anlaufstellen oder Telefonnummern für kostenfreie und anonyme Hilfehotlines recherchiert und an die betroffene Person weitergeleitet werden könnten. Besonders wichtig ist laut Miriam außerdem, dass auch fachlich kompetente und neutrale Personen involviert werden. Da eine Einzelperson nicht die komplette Verantwortung für eine solchen Notsituation übernehmen kann und sollte, kann beispielsweise das Jugendamt, der Schulsozialdienst und der schulpsychologische Dienst hinzugezogen werden. Eltern sollten laut Miriam in einem solchen Fall erst einmal nicht kontaktiert werden, um sich selbst oder das Kind nicht noch weiter zu gefährden.
Die #niemalsgewalt-Kampagne von UNICEF Deutschland
Auch die aktuelle UNICEF-Kampagne „Niemals Gewalt“ möchte über Gewalt gegenüber Kindern in Deutschland aufklären und ein gesellschaftliches Bewusstsein für die wichtige Thematik schaffen. Die Ziele der Kampagne gliedern sich in vier wesentliche Teile: Prävention und Sensibilisierung, Stärkung der Kinderrechte, Unterstützung von Studien, Forschung und Datenerhebung zu Gewalt gegen junge Heranwachsende und die Schaffung von rechtlichen sowie politischen Rahmenbedingungen, um Kindern in Gewaltsituationen adäquat helfen zu können. Eine besonders wichtige Forderung von UNICEF Deutschland ist die Aufnahme der Kinderrechte in das deutsche Grundgesetz. Dadurch würde der Staat sich dazu verpflichten, den Kinderschutz weiterhin kontinuierlich zu verbessern sowie Kinder und Jugendliche bei sie betreffenden Entscheidungen und Gesetzgebungen mehr zu berücksichtigen und anzuhören. Die Förderung und Unterstützung von Datenerhebungen und Forschung sollen eine bessere und umfangreichere Datenlage schaffen und damit die Sichtbarkeit des Problems auf gesellschaftlicher und politischer Ebene sowie den Handlungsdruck deutlich erhöhen. Die finanzielle und personelle Stärkung staatlicher und privater Anlaufstellen wie der Jugendämter, Hilfetelefonhotlines und anderen Anlaufstellen ist ebenfalls Ziel der #niemalsgewalt-Kampagne und soll sicherstellen, dass für jedes betroffene Kind Hilfe bereitgestellt werden kann.
Einen ganzen Abend lang spreche ich mit Miriam: Über die Definition von Gewalt, ihren Beruf als Psychologin in der Jugendhilfe und wie man den betroffenen Kindern helfen kann. Auf meinem Heimweg, bei der Sichtung meiner Notizen und auch beim Schreiben des Artikels habe ich ein ungutes und mulmiges Gefühl. Gewalt, die zahlreichen Folgen von Gewalt und Kinderschutz sind sehr wichtige Themen. Damit Kinder jedoch gewaltfrei aufwachsen können, muss sich jeder und jede mit diesen Themen auseinandersetzen. Wir müssen der Realität ins Auge blicken, handeln und den betroffenen Kindern helfen.
Text: Claudia Enk, Juniorteam UNICEF AG München