UNICEF-Bericht zur Lage von Kindern in Deutschland 2013
Benachteiligte Kinder stärken
UNICEF Deutschland fordert Kraftanstrengung in neuer Legislaturperiode
UNICEF Deutschland ruft Bund, Länder und Gemeinden dazu auf, alle Kräfte zu bündeln, um verfestigte Armutssituationen bei Kindern zu verhindern. Benachteiligte Kinder und Jugendliche brauchen frühzeitigere und umfassendere Unterstützung.
Eine Längsschnittanalyse für den UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland 2013 ergab, dass zwischen 2000 und 2010 rund 8,6 Prozent der Kinder und Jugendlichen langjährige Armutserfahrungen gemacht haben. Die meisten von ihnen (6,9 Prozent) lebten zwischen 7 und 11 Jahre lang in einem Haushalt, der mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens auskommen musste. 1,7 Prozent aller Heranwachsenden wuchsen sogar 12 bis 17 Jahre unter diesen schwierigen Bedingungen auf. Auf die heutige Situation bezogen wären demnach insgesamt rund 1,1 Millionen Heranwachsende einen Großteil ihrer Kindheit und Jugend relativer Armut ausgesetzt.
„Wir müssen die am stärksten benachteiligten Kinder frühzeitiger und umfassender unterstützen“, erklärte Prof. Dr. Hans Bertram, Herausgeber des UNICEF-Berichts, der heute in Berlin vorgestellt wurde. „Der Ausbau von Krippen, Kitas und Ganztagsschulen allein reicht nicht aus, um das Wohlbefinden und die Teilhabe dieser Kinder zu sichern.“
„Jedes Kind hat ein Recht darauf, dass wir ihm helfen, einen Platz im Leben zu finden“, sagte Dr. Jürgen Heraeus, Vorsitzender von UNICEF Deutschland. „Wir dürfen nicht hinnehmen, dass eine große Gruppe von Kindern einfach abgehängt wird.“
Lange Armutsphasen kosten Zukunft
Namhafte Wissenschaftler stellen in dem Report neue Forschungsergebnisse zur Situation von Kindern vor, die besonders von Ausschluss bedroht sind: Kinder alleinerziehender und arbeitsloser Eltern, Kinder mit Migrationshintergrund sowie Kinder in problematischen und gewaltbelasteten Lebensverhältnissen.
Armutserfahrungen haben demnach stark negative Auswirkungen auf Kinder, wenn sie mindestens ein Drittel der Kindheit andauern. Je länger und je öfter Kinder Phasen von relativer Armut durchleben, desto negativer sind die Folgen nicht nur für die materielle Situation. Wer als Kind dauerhaft unterhalb der Armutsgrenze leben muss, ist als Erwachsener deutlich unzufriedener mit seinem Leben. Gelernte Hoffnungslosigkeit macht es schwer, Herausforderungen im weiteren Leben zu meistern.
Besonders schwierig ist die Situation von Kindern alleinerziehender Eltern. Sie haben zum Beispiel bereits am Ende der vierten Klasse einen Leistungsrückstand in Mathematik und Naturwissenschaften von einem halben Lernjahr auf ihre Altersgenossen. Die Ursache liegt jedoch nicht in der Familienform, sondern in den sozialen und ökonomischen Problemen vieler alleinerziehender Eltern. 2009 hatte zum Beispiel jede vierte alleinerziehende Mutter die Schule nicht beendet bzw. lediglich einen Hauptschulabschluss.
UNICEF Deutschland hält es für dringend erforderlich, dass Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam die Teilhabechancen der am stärksten benachteiligten Kinder verbessern. Die Politik sollte sich das Ziel setzen, den Anteil von Kindern in verfestigter Armut in den kommenden vier Jahren zu halbieren.
Wird nicht gegengesteuert, kann das Wohlbefinden und die Zukunftsfähigkeit der Kinder Schaden nehmen. So belegen Untersuchungen, dass diese Kinder weniger Sport machen, mehr fernsehen und häufiger rauchen. Problembelastete Kinder und Jugendliche sind auch stärker in Gefahr von Computer- und Internetabhängigkeit, da sie dort möglicherweise leichter Erfolgserlebnisse haben.
„Schwierige“ Lebensverhältnisse sind auch Hauptursache für gewalttätiges Verhalten: schlagende Eltern, Gewaltmedienkonsum, gewaltakzeptierende Männlichkeitsnormen und das Zusammentreffen vieler Heranwachsender mit solchen Erfahrungen in bestimmten Schulen oder Stadtteilen. Gleichzeitig wirken aber auch präventive Maßnahmen gegen Gewalt. So sank insgesamt der Anteil der polizeilich registrierten Straftaten von Jugendlichen von 8,2 Prozent in 1998 auf 6,7 Prozent in 2011.
Im internationalen Vergleich der Industrienationen schneidet Deutschland beim Wohlbefinden von Kindern im oberen Drittel ab. So gibt es Fortschritte bei der Bildung und bei der Gesundheit. Und auch die materielle Situation der deutschen Mädchen und Jungen ist mit Platz 11 unter 29 Ländern vergleichsweise gut. Allerdings birgt der Blick auf Durchschnittswerte die Gefahr, die gravierenden Probleme eines Teils der Kinder zu übersehen.
UNICEF-Forderungen an die deutsche Politik
Zu Beginn der neuen Legislaturperiode fordert UNICEF Deutschland einen konkreten Maßnahmenplan, um zu verhindern, dass benachteiligte Kinder „abgehängt“ werden:
- Die Politik muss entschieden gegen Kinderarmut vorgehen. Die neue Bundesregierung sollte in einer gemeinsamen Kraftanstrengung mit Ländern und Kommunen konkrete Ziele zur Überwindung der Kinderarmut entwickeln und umsetzen. Alle in Deutschland lebenden Kinder sollten einen eigenen Rechtsanspruch auf eine Grundsicherung erhalten.
- Bildung in Deutschland sollte frühzeitige und gezielte Förderung für benachteiligte Kinder umfassen. Benachteiligte Kinder brauchen zielgenaue und frühzeitige Förderung und gut ausgebildete Lehrkräfte. Die Bildungspolitik für diese Kinder sollte durch gezielte Arbeits- und Sozialpolitik ergänzt werden, die vor allem Alleinerziehende wirksam unterstützt.
- Alle Kinder haben das Recht auf umfassenden Schutz vor Gewalt. Die Bundesregierung sollte zur Bekämpfung der Gewalt gegen Kinder eine verbindliche, mit Ländern, Kommunen und den Akteuren der Zivilgesellschaft abgestimmte und ausreichend finanzierte nationale Strategie entwickeln.
- Die UN-Kinderrechtskonvention vollständig umsetzen. Um dem Kindeswohl Vorrang bei allen Kinder betreffenden Entscheidungen zu geben, sollten die Rechte der Kinder ausdrücklich im Grundgesetz verankert werden. UNICEF Deutschland fordert zudem einen Beauftragten für Kinderrechte auf Bundesebene.
- Die neue Bundesregierung sollte Kommunen dabei unterstützen, kinderfreundlicher zu werden. Es ist vor allem die Aufgabe der Kommunen, Kinderrechte umzusetzen. Bund und Länder müssen Städte, Gemeinden und Nachbarschaft dabei unterstützen ein positives Umfeld schaffen, in dem Kinder und Jugendliche gehört und beteiligt werden.
Der UNICEF-Bericht zur Lage von Kindern in Deutschland „Reiche, kluge, glückliche Kinder?“ (Hrsg. Hans Bertram) erscheint im Verlag Beltz Juventa.