Meinung

Kinderrechte in Zeiten von COVID-19 – Gedanken zur aktuellen Lage in Deutschland


von Sebastian Sedlmayr

„Die Oma hatte den Zweiten Weltkrieg, du und Mama hattet den Mauerfall, wir haben Corona“, rief meine 14-jährige Tochter an ihrem vorerst letzten Schultag, als die Kultusministerien Deutschlands ankündigten, wegen der Ausbreitung von COVID-19 den Unterricht für mindestens fünf Wochen ruhen zu lassen.

Es lag fast etwas Frohlockendes in ihrer Stimme, so als begänne nun ein großes Abenteuer, als würde nun endlich einmal etwas Großes, Wichtiges, etwas Unvorhergesehenes passieren. Ihr zehnjähriger Bruder bemerkte trocken: „Das ist eine Wild Card. Das steht in meinem Zukunftsbuch.“ Und tatsächlich hatten wir erst vor wenigen Wochen in einem Kindersachbuch über Zukunftsforschung gelesen: „Ein neuartiges, noch unbekanntes Virus, gegen das es kein Mittel gibt, ist eine Wild Card. Es kann morgen passieren, in zehn Jahren oder nie.“ Und nun ist es passiert.

Wer mit Kindern zu tun hat weiß, in welch atemraubender Geschwindigkeit sie sich an neue Situationen anpassen können. Wie die weichen Knochen, Gelenke und Muskeln des Körpers in den ersten Jahren der menschlichen Entwicklung noch biegsam sind und sich auf ihre Umwelt einstellen, so kann auch die kindliche Psyche selbst grobe Rückschläge rasch wegstecken.

Allerdings bleiben bei zu heftigen oder andauernden Einwirkungen unter der Oberfläche Verformungen und Verletzungen zurück, die in manchen Fällen niemals heilen. Wie bei Kinderfüßen, die zu lange in zu kleine Schuhe gepresst wurden. Das zu verhindern ist unsere gemeinsame Verantwortung, in Deutschland und weltweit.

Kindheit in der Corona-Pandemie

Möchten Sie mehr über die Folgen der Pandemie für Kinder weltweit erfahren und darüber, wie UNICEF hilft? Hier finden Sie immer die aktuellsten Corona Infos im UNICEF Blog.

Kinder brauchen ein schützendes Umfeld

Auch wenn es sich fast unverschämt anhört und sicher für viele Familien so nicht gilt: Nach zwei Wochen „Homeoffice“ und „Homeschooling“ fehlt unserer Familie bisher wenig. Für uns könnte es also noch eine Weile so weitergehen. Das Problem ist nur: Für viele Familien ist schon jetzt die Schmerzgrenze überschritten. Und auch für uns wird es nicht ewig so weitergehen. Denn irgendwann werden auch uns die Probleme erreichen, die Millionen von Familien in Deutschland und anderen europäischen Ländern schon jetzt mit teilweise enormer Wucht treffen.

Homeschooling: Kinder lernen zuhause von ihren Eltern.

Viele Familien kommen gut mit „Homeoffice“ und „Homeschooling“ zurecht. Für andere, insbesondere für benachteiligte Kinder und Familien, kann die derzeitige Situation dagegen deutlich schwieriger sein.

© UNICEF/UNI313683/Bozon/AFP

Die Auswirkungen können für Kinder verheerend sein. Wenn die Einnahmen weggebrochen sind, weil die Eltern ein kleines Restaurant haben, das schließen musste, wenn die Wohnung zu eng ist, um sich aus dem Weg zu gehen, wenn der Frust bei manchen Eltern den Alkoholkonsum steigen lässt und irgendwann die ersten Schläge dazukommen und weder in der Kita, noch in der Schule, noch im Bekanntenkreis jemand da ist, um dem Kind zuzuhören, es sich niemandem anvertrauen und öffnen kann. Auch den Großeltern nicht. Oder, noch schlimmer, wenn Verwandte sterben.

Mit den aktuellen Ausgangsbeschränkungen und Kontaktsperren fallen auch die meisten gewohnten sozialen Kontroll- und Auffangmechanismen weg. Familien sind sich in ihrer Angst, ihrer Überforderung, ihrer Trauer weitgehend selbst überlassen.

Diese zunehmende Isolation kann gerade für Kinder in prekären Familiensituationen gravierende Folgen haben. Hat vor den Schul- und Kitaschließungen das Personal noch ein Auge darauf gehabt, in welchem Zustand die Kinder morgens zu ihm kamen, konnte auf Eltern und Verwandte einwirken und bei einem Verdacht auf eine akute Gefährdung des Kindeswohls mit dem Jugendamt Kontakt aufnehmen, fallen diese wichtigen Elemente eines schützenden Umfelds für Kinder nun komplett weg.

Corona: Ein abgesperrter Spielplatz in einer Siedlung.

Wie dieser Spielplatz in Italien sind in Deutschland zahlreiche Spielplätze abgesperrt. Doch Kinder brauchen Spiel und Bewegung.

© UNICEF/UNI312256/Diffidenti

So rasch sich Kinder an neue Gegebenheiten anpassen können, wie oben geschildert, so dramatisch schnell können sie auch Schäden nehmen. Auch das wissen alle, die mit Kindern zu tun haben: Je jünger Kinder sind, desto abrupter ist der Verlauf von Fieber, von Dehydrierung. Gerade Durchfallerkrankungen sind für Kinder deshalb so schnell lebensgefährlich. Aber auch eine einseitige Ernährung, zu wenig Bewegung, zu wenig frische Luft oder zu wenig Zuneigung schaden Kindern viel schneller als Erwachsenen. Ein Erwachsener kann sich vielleicht über Monate mit Dosenwürstchen und Kartoffeln über Wasser halten. Ein einjähriges Kind würde seinen zweiten Geburtstag mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erleben.

Kinder sind die unsichtbaren Opfer der Krise

Ähnlich verhält es sich mit der Bildung. Jeder Monat ohne Schule verzögert die Entwicklung von Kindern verglichen mit Erwachsenen in einer dramatisch vervielfachten Auswirkung. Lesen, Schreiben, Rechnen, aber auch die soziale und mentale Entfaltung der Persönlichkeit geschieht in den ersten Lebensjahren wie in einem Zeitraffer, und die Disposition zur Entfaltung beschränkt sich im Wesentlichen auf das Kinder- und Jugendalter. Was dann nicht passiert, ist unwiederbringlich verloren.

Corona-Krise: Ein Mädchen lernt in einer virtuellen Klasse.

In der Corona-Krise setzen viele Länder auf digitale Bildungsangebote (wie auf diesem Foto aus den USA). Aber erreichen sie diejenigen, die sie am dringendsten brauchen?

© UNICEF/UNI313108/Adelson

In Deutschland gibt es tausende digitaler Bildungsangebote. Aber wer kann sagen, ob sie gerade diejenigen erreichen, die sie am dringendsten benötigen? Selbst in den sogenannten bildungsnahen Schichten hat nicht jede Familie ein starkes WLAN, für jedes Kind einen Computer und einen funktionsfähigen Drucker zuhause.

Bis vor zwei oder drei Wochen hätte ich mir nicht träumen lassen, selbst einmal in der Lage zu sein, auf die wir bei UNICEF ständig aufmerksam machen möchten: Ein Krieg, eine Naturkatastrophe oder die schiere Armut verhindern, dass die eigenen Kinder zur Schule gehen können. Bitte helft diesen Kindern, heißt es dann in den Spendenaufrufen. Unterstützt diese Kinder mit Nothilfe- und Entwicklungsprogrammen, bitten wir die Regierungen in Europa, Nordamerika, Japan.

Jetzt hat eine Katastrophe bei uns den Alltag aus den Angeln gehoben. Und es sind ähnliche Szenarien, ähnliche Schicksale, die sich ankündigen. „Bildung ist lebensrettend“, ist ein bei UNICEF häufig verwendeter Satz. „Kinder sind die unsichtbaren Opfer“, ein anderer. „Wir müssen uns konzentrieren auf die Kinder, deren Eltern nicht die Ressourcen haben, sie zu beschützen, zu bilden, zu ernähren.“

Kinderschutz: Mutter hilft ihrem Sohn bei Schulaufgaben.

Kinder brauchen jetzt besonderen Schutz. Nicht immer können ihre Eltern ihnen diesen geben, zumal die Situation auch für die Eltern Stress und Druck bedeutet.

© UNICEF/UNI313388/McIlwaine

Wir wissen, dass Kinder in Not- und Krisenzeiten viel stärker gefährdet sind, Opfer von Gewalt, Ausbeutung und Missbrauch zu werden. Der Kinderschutz steht bei UNICEF-Nothilfeeinsätzen deshalb an vorderster Stelle und bildet neben Ernährung, Wasserversorgung oder Bildung einen eigenen „Cluster“, also Aufgabenbereich.
Mir scheint, dass diese Grundsätze der humanitären Hilfe bei unserem eigenen Krisenmanagement noch nicht vollständig angekommen sind.

Wer kümmert sich um die Kinder?

In der Corona-Krise sind Tätigkeiten in sogenannten „kritischen Infrastrukturen“ vom Kinderbetreuungsverbot ausgenommen. Die hier arbeitenden Eltern dürfen ihre Kinder also in die bereit gestellte Notbetreuung geben. Dazu gehören zum Beispiel das Gesundheitswesen, die Energie- und die Wasserversorgung, zumindest nach dem Erlass in Nordrhein-Westfalen auch der „Sektor Finanz- und Wirtschaftswesen“. Soweit bekannt, enthalten die Erlasse der Bundesländer auch Bestimmungen zur Aufrechterhaltung der Kinder- und Jugendhilfe.

Wenn deren Personal jedoch keine Kinderbetreuung erhält, und auch aufgrund des hohen Krankenstands, sind die Jugendämter gefährlich ausgedünnt. Sie würden nach aktueller Einschätzung von Fachleuten einem Ansturm genauso wenig standhalten wie schlecht ausgestattete Kliniken. Wenn aber sehr viel mehr Menschen als bisher in Kliniken müssen, bleiben auch mehr Kinder zurück.

Die niedersächsische Landesregierung verschickte nach ihrem Erlass zu Kontaktsperren sogar noch eine Klarstellung, dass sich das Kontaktverbot ausdrücklich auf alle Angebote der Kinder- und Jugendarbeit bezieht, auf alle Angebote der Jugendsozialarbeit und der Familienförderung. Telefonische und Online-Angebote sollen den Bedarf nun notdürftig decken.

Kinderrechte müssen weiter Vorrang haben

Dass das Vorhaben der Regierung, Kinderrechte ins Grundgesetz zu schreiben, aufgrund der Corona-Krise auf die lange Bank geschoben scheint, ist ein weiteres Zeichen dafür, wie die Prioritäten in dieser Katastrophenbewältigung gesetzt werden. Nur gilt gerade in Notzeiten: Wie wir mit unseren Kindern umgehen, entscheidet über die Zukunft unserer Gesellschaft. Die viel zitierte Berücksichtigung des Kindeswohls bei staatlichen Entscheidungen braucht es jetzt mehr denn je.

In der nächsten Phase des Krisenmanagements sollten wir deshalb mehr Wert legen auf die Rechte unserer Kinder auf Schutz, auf Bildung und auf Teilhabe in Zeiten von Corona. Wie bereits für den Schutz von Frauen vor Gewalt geschehen, brauchen wir ein Notfall-Paket für Schutz, Bildung, Teilhabe und Gesundheit der Kinder. Bund und Länder sollten sich dazu abstimmen und vor allem die schwächsten Kinder und Familien unterstützen.

Dazu zählen Kinder in kleinen Wohnungen, Kinder in Hartz IV-Familien, Kinder, deren Eltern über Nacht ihren Job verloren haben, Kinder, die auch in der Schule schon Schwierigkeiten mit selbstorganisiertem Lernen hatten, gerade erst eingewanderte Kinder, insbesondere diejenigen in Flüchtlingsunterkünften sowie Kinder, die Angehörige wegen COVID-19 oder der Folgen der Epidemie verlieren. Diese Kinder dürfen nicht aus dem Blick geraten.

Kinderschutz: Junge spielt mit seinen Kuscheltieren.

Um den Kinderschutz in Deutschland während und nach der Corona-Krise zu sichern, sind wir alle gefragt.

© UNICEF/UNI313409/McIlwaine

Schutz, Versorgung und die Bildungskontinuität der Kinder in Deutschland darf nicht als ein alleiniges Thema der Jugend- und Familienministerien verstanden werden, sondern bedarf der Zusammenarbeit einer ganzen Reihe von Ministerien und Behörden wie Inneres, Bildung, Soziales und Gesundheit.

Natürlich sind neben den staatlichen Stellen auch wir alle gefragt. Sich bei Freunden und Bekannten melden, Unterstützung anbieten, Nachhilfe übers Videotelefon geben, Solidarität organisieren und zeigen. All das hilft die sozialen Folgen der Corona-Krise abzumildern. Und damit werden wir auch die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen eher überstehen, die bislang im Vordergrund stehen.

Hilfreiche Links für Eltern
Wir haben Tipps und Informationen, die für Eltern und Schwangere im Zusammenhang mit dem Coronavirus hilfreich sein können, für Sie zusammengestellt:
Hier lesen Sie, was Eltern und Schwangere zur Ausbreitung des Coronavirus jetzt wissen sollten.
Wie können Familien den neuen Alltag zuhause gut gestalten und Spannungen vermeiden? Kinderpsychiaterin Dr. Susanne Schlüter-Müller gibt Tipps.
Die Initiative #keinKindalleinlassen gibt eine Übersicht über Tipps und Strategien, die helfen könnten, wenn Sie sich Sorgen um ein Kind und seine Familie machen.
Wie können Sie gut mit Ihrem Kind über COVID-19 und die aktuelle Situation sprechen? Das lesen Sie hier.
Hier haben wir Tipps für Jugendliche: So bleibt ihr trotz des Kontaktverbotes zuversichtlich!
Hier finden Sie Bastel-, Mal- und Spieletipps gegen Langeweile zuhause.

Kinderrechte ins Grundgesetz: Dr. Sebastian Sedlmayr, UNICEF Deutschland
Autor*in Sebastian Sedlmayr

Sebastian Sedlmayr arbeitet seit 2006 für UNICEF. Er beschäftigt sich vor allem mit der Situation benachteiligter Kinder und mit der Umsetzung der Kinderrechtskonvention in Industrieländern.